Es war Anfang Mai, als ich für mein Buch „Filótimo! – Abenteuer, Alltag und Krise in Griechenland“ im Epirus unterwegs war. In Tsepélovo traf ich echte Sarakatsanen und wahre Gastfreundschaft. Die legendären Sarakatsanen waren Hirten, die als Nomaden ab dem 18. Jahrhundert auch durch das Epirus wanderten. Die Sommer verbrachten sie auf den Bergen, die Winter hingegen in den wärmeren Küstengegenden rund um Preveza. Heute sind sie außerhalb Griechenlands kaum bekannt. Ganz ähnlich, wie die abgelegenen Zagorochória (Auszüge aus „Filótimo!“ sind nachfolgend kursiv gedruckt):
›Unendlichkeit‹ bedeutet der alte Name des Epirus, der Region, die ganz im Nordwesten Griechenlands an Albanien grenzt. Das Zagori ist Teil des Epirusgebirges. Ein schier unendlich abgelegenes Bergidyll im nördlichen Pindosgebirge. Hier befinden sich die weltberühmten Zagorochória. ›Choria‹ bedeutet ›Dörfer‹. Der Begriff Zagori entstammt dem Slawischen und bedeutet ›hinter den Bergen‹. Die Zagorochória sind also – vom Balkan aus gesehen – die Dörfer hinter den Bergen. Die ersten von ihnen sind bereits im 9. Jahrhundert entstanden. Im 17. Jahrhundert waren es etwa 60, heute sind es noch 46 winzig kleine und zum Teil fast ausgestorbene Siedlungen. Die einst lebhaft pulsierenden Gemeinden sind durch die massive Landflucht im Laufe der Jahrhunderte nahezu entvölkert worden. Wilde Natur, bewaldete Berge und atemberaubende Schluchten zeichnen das bevölkerungsarme Zagori heute aus. Die Dörfer des Zagori verteilen sich über eine Fläche von rund 1.000 Quadratkilometern. Das Gebiet der früheren Gemeinde Tymfi, die ihren Verwaltungssitz bis 2010 in Tsepélovo hatte, brachte es auf eine Einwohnerzahl von drei Personen pro Quadratkilometern, und das, obwohl Tsepélovo das größte Dorf der Zagorochória ist. Nur 130 Einwohner leben dauerhaft dort, in einer Höhe von 1.080 Metern über dem Meeresspiegel. (…)
Die zur Plateia führenden engen Wege sind alle typisch epirotisch mit groben Natursteinen gepflastert. Silbergraue Natursteinhäuser säumen den ebenfalls gepflasterten Platz. Ein kleiner Kirchturm ragt über die Häuserfronten hinaus und zwei riesige uralte Platanen spenden den wenigen Tischchen vor den zwei Cafés Schatten.
Mit Eleni, der Frau von Takis, einem Sarakatsanen, und ihrem Sohn Ioannis verbrachte ich drei faszinierende Tage in und um Tsepélovo. Bei einem Spaziergang durch ihr Dorf führten sie mich in die historische kleine Kirche Agios Nikolaos, die im 18. Jahrhundert renoviert und mit einzigartigen Wandmalereien versehen wurde. Prächtige Goldschätze, Ikonen und bunte Heiligenbildnisse laden zum Verweilen ein. Später, auf dem Rückweg zur Plateia, kamen wir an einer seit Jahren geschlossenen Apotheke in einem Gebäude von 1874 und an einer uralten Schuhmacherwerkstatt vorbei. Durch die staubigen Schaufenster blickte ich in museal wirkende Räume, die noch so ausgestattet waren, wie zu den Zeiten, als der Apotheker und der Schuster noch ihren Berufen nachgingen. Nach einem traditionellen, epirotischen Abendessen in einer der urigen Dorftavernen, ging es schließlich noch in eine Bar, wo mich die Einheimischen am späten Abend zu einem „Potó“, einem hochprozentigen Getränk einluden. Bei Ouzo und Tsipouro – einem traditionellen Tresterbrand – fragte mich einer der Männer, ob ich eine gewisse Petra kenne. Sie sei Deutsche und hätte vor vielen Jahren einige Monate in Tsepélovo verbracht. „Petra hat ausgezeichnete Fotos gemacht“, sagte der Mann voller Euphorie und ergänzte: „Versuch sie zu finden!“ Dann steckte er mir einen Zettel zu, auf dem er ihren Name notiert hatte: Petra Goll. Ich versprach ihm mich umzuhören, dann bestellten wir noch einen Drink. Es wurde spät, und dennoch waren wir am nächsten morgen früh unterwegs, denn Eleni wollte mir Gyftókampos zeigen:
»In Gyftókampos war ein Sommerlager der Sarakatsánen«, sagt Eleni. »Vor einigen Jahren hat man es originalgetreu nachgebaut und man kann es in den Sommermonaten besichtigen.«
Gyftókampos liegt fünfzehn Kilometer von Tsepélovo entfernt in einem kleinen Tal auf 1.600 Höhenmetern. Eine große saftig-frischgrüne Wiese übersät mit Gänseblümchen an einem Hang des Tymfi-Bergmassivs. Ein hölzernes Schild weist am Straßenrand zum Eingang des ›Sarakatsániki stani‹ – zum Sarakatsanischen Pferch, wo sich heute die nachgebauten Strohhütten, pittoresk wie einst, in das Bild der Landschaft einfügen. Perfekte Idylle. Eleni erklärt, dass jährlich am ersten Augustwochenende hier das traditionelle Sarakatsánentreffen stattfindet. Dann kommen sie in Scharen aus allen Ecken der Welt, um zu feiern, zu singen und zu tanzen. Die Nachfahren der legendären umherwandernden Hirten.
Jetzt wirkt alles so verlassen, als sei tatsächlich seit dem vergangenen Sommer niemand mehr hier gewesen. Die meist runden, kegelförmigen Hütten aus Holz und Stroh stehen verlassen auf der Wiese. Eleni geht voran. Es gibt unterschiedliche Hütten für verschiedene Zwecke. An der ersten Strohhütte bleibt Eleni stehen und bittet mich einen Blick hineinzuwerfen.
»Das war eine typische Wohnhütte. In einer solchen hat Takis auch noch gelebt«, sagt Eleni. »Ja, Takis ist noch bis zu seinem zehnten Lebensjahr mit seinen Verwandten im Sommer immer auf die Berge gezogen und im Winter runter in Richtung Preveza.« Von Mai bis November schlugen die Sarakatsánen ihre ›Zelte‹ in den Bergen des Zagori auf. »Takis ist 1953 am Kanal von Preveza geboren. Dort hatten sie damals immer ihr Winterlager. Bis 1965 hat er mit seinen Eltern immer diesen Umzug mitgemacht«, sagt Eleni und guckt verträumt in den Himmel. »Ich würde es: ›Die traumhafte Reise‹ nennen.«
Eleni ist nicht nur Lehrerin sondern auch stellvertretende Vorsitzende der ›Adelfótita Sarakatsanéon Epirus‹ – der Bruderschaft der Sarakatsánen des Epirus. Also eine ausgewiesene Expertin, und während wir von einer Strohhütte zur nächsten spazieren, erzählt sie mir die Geschichte der Sarakatsánen. Die Hirten schlossen sich in einer Art Genossenschaft, dem ›Tselikáto‹, zusammen, die die Voraussetzungen dafür schuf, die Viehzucht sowie die Herstellung und Vermarktung ihrer Produkte zu optimieren. Eine oder mehrere dieser Genossenschaften bildeten jeweils eines der Hirtenlager, die ›Stani‹. Jede Genossenschaft wählte aus ihrer Mitte einen besonders angesehenen Mann zum ›Tsélingas‹, eine Art Vorsitzenden. (…)
Nachdem ab 1870 die türkischen Besatzer den Familien der Hirten das Mitumherziehen verboten hatten, nahm die Anzahl der wandernden Sarakatsánen nach und nach ab. Sie mussten fortan in ihren Dörfern bleiben. Im Jahr 1922 zählte man noch 52 Hirtenlager in denen 528 Familien lebten. Bald sollte es keines mehr geben. (…)
Eleni führt mich vorbei an Hütten mit Koch- und Backstellen, an Vorratshütten und an einer ›Wäscherei‹. Die Sarakatsánenlager hatten alles, was man für ein gutes halbes Jahr in den Bergen benötigt. Im Mittelpunkt des Zeltes standen jedoch die Schafe und Ziegen. In der ›Batsarió‹ wurde die Rohmilch verarbeitet. In der Hütte stehen Kessel und Töpfe, Platten und ein Butterstampfertrog. Nebenan befindet sich die ›Siástra‹, eine einfache Holzkonstruktion, die als Waage diente. Mit ihr wurde die Milch vor der Verarbeitung zu Käse gewogen. Am Rande des Lagers kommen wir zum ›Gidomántri‹, dem Ziegenpferch. Eine Art Stallung, deren Strohwände ähnlich gebaut sind wie die Wände der Wohn- und Arbeitshütten, bei der jedoch das Dach fehlt. Sie ist nach oben hin offen, ebenso wie die größere Stallung, die uns direkt neben dem Ziegenpferch erwartet. Beim ›Gréki‹, dem Schafspferch, sind die Strohwände hingegen nach oben hin schräg zulaufend konstruiert. Etwas weiter befindet sich ein mit großen Natursteinen etwa hüfthoch umrandetes Areal, dessen Ende auf zwei trichterförmige Durchlasse zuläuft. Wir stehen vor der ›Strúgka‹. Ich übersetze es mit Melkpferch. In ihm wurden die Tiere zum Melken zusammengetrieben, und einzeln gelangten sie eines nach dem anderen zu den beiden Durchlässen, an denen zwei Hirten mit geschickten Händen darauf warteten, die gesunde, frische Milch aus den Eutern zu melken. Eine stattliche Anzahl an Schafen und Ziegen war zu versorgen. In den 60er Jahren wurde die Zahl der Sarakatsánen auf bis zu 100.000 geschätzt. Sie weideten etwa 85.000 Schafe und 13.000 Ziegen. Ein durchschnittliches Hirtenlager muss so auf etwa 2.000 Tiere gekommen sein. Rund zweihundert pro Familie.(…)
Nach der Rückkehr aus Gyftókampos
Am Ortseingang von Tsepélovo bleiben wir vor einem modernen Hotel stehen. Es gehört den Hirtenbrüdern Kostas und Jorgos. Eleni geht voran und im Gastraum treffen wir auf Kostas. Gerade frisch geduscht und umgezogen, hätte ich ihn fast nicht erkannt, aber als er mir seine Hand zur Begrüßung reicht, rieche ich wieder diesen zarten Schafsmilchduft, und die Haut fühlt sich noch sahnigcremig an. Die Schafzucht betreiben sie inzwischen als Zuerwerbsbetrieb. Das Hotel und die Taverne tragen den übrigen Rest zum Überleben bei.
»Es ist nicht einfach«, sagt der Hirte. »Die Molkerei zahlt uns einen Euro pro Liter Milch. Doch der Aufwand der Schäferei ist immens. Die Einnahmen decken kaum die Kosten. Es geht nur, weil mein Bruder und ich auch selber melken. Es lohnt sich eigentlich nicht.« Der Hirte blickt aus dem Fenster in die Dunkelheit des Epirus. Und ich ahne, dass die Schafzucht für ihn eine Herzensangelegenheit ist.