Wer heute nicht weiß, wie er eine wichtige Lebensfrage lösen soll geht zum Astrologen, zur Kartenlegerin oder zum Psychiater. Früher ging man mit solchen Fragen nach Delphi.
Apollons Heiligtum mit dem berühmten Orakel am „Nabel der Welt“ ist auch heute noch einer der eindrucksvollsten Orte Griechenlands. Die rätselhaften Orakel der delphischen Pythia sind legendär. Das Orakel ist vor langer Zeit verstummt, aber Delphi ist ein Ort der Rätsel und des Staunens geblieben.
Schon die vielen verschiedenen Mythen, die sich um Delphi ranken, weisen auf die Besonderheit dieses Ortes hin. In der Antike wurde Delphi als der „Nabel der Welt“ betrachtet, nachdem zwei Adler, die Zeus von den Enden der Welt in die entgegengesetzten Richtungen ausgeschickt hatte, um den Mittelpunkt der Welt zu bestimmen, über Delphi zusammengetroffen waren. Zum geistigen und kulturellen Mittelpunkt und „Nabel“ der griechischen Welt sollte Delphi jedoch viel später werden durch sein Orakel.
Staunen über Delphi wird man schon beim ersten Anblick seiner atemberaubenden Landschaft. Jeder, der auf den Spuren der alten Griechen Griechenland bereist, ist immer wieder fasziniert, mit welch ausgeprägtem Gefühl für die besondere Atmosphäre eines Ortes die Griechen die Plätze für ihre Heiligtümer ausgewählt haben. Aber Delphi ist einfach einzigartig. Die Großartigkeit dieser Landschaft wird jedem, der sie mit eigenen Augen gesehen hat, unvergesslich bleiben. Das Heiligtum des Apollon liegt wie auf einer Terrasse in 570m Höhe über dem Meer. Nach Nordosten zu ragen die majestätischen Felsen der Phaedriaden, die schon zum Massiv des Parnassos (2459m) gehören, noch weitere 700m fast senkrecht in die Höhe. Sie sind durch eine tiefe Schlucht gespalten, in der die Kastalia-Quelle liegt. Im Süden fallen die Phaedriaden steil ab zu einem vom Fluss Pleistos tief eingegrabenen Tal. „Dort, wo die Phaedriaden ihre Wurzeln haben, am kastalischen Quell, glaubt man, den Abgrund aller Abgründe zu erblicken: die beiden Felsen sind durch einen scharfen Schnitt - heute Bärenschlucht genannt - getrennt, die bis weit in die Pleistos-Ebene hinunterreicht.“ (Christos Karousos). Die mit unzähligen Ölbäumen bestandene Ebene öffnet sich zur breiten Bucht von Itea, wo in der Antike Kirra lag, der Hafen von Delphi.
Wer je in Delphi von einem Gewitter überrascht wurde, weiß aber auch, wie unheimlich und bedrohlich seine Landschaft wirken kann.
Und man fragt sich, wie es kommt, dass ausgerechnet der lichte Apollon, der Freund der Musen, der Gott der Weisheit und der Musik, in dieser von wilden Urkräften geprägten und beherrschten Landschaft wohnen wollte?
Die Mythologie sagt uns dann auch, dass Apollon keineswegs der Erste an diesem Ort war.
Zunächst, so sagt uns eine der vielen Mythen überDelphi, wurde hier die Erdgöttin Gaia als „protomantissa“ (gr.: „erste Seherin“) verehrt. Bewacht wurde das Heiligtum der Göttin durch Python, die „rötlich schillernde Schlange, im Schatten üppigen Lorbeers, das erdentsprossene, riesenleibige Scheusal, Wächter des Orakels der Gaia“ (Euripides, Iphigenie im Taurerland, 1,45.). Einigen Quellen nach kam Apollon kampflos an die Macht, weiter verbreitet war jedoch der Mythos, nach dem er das drachenartige Ungeheuer mit seinem „krummen Bogen“ überwand oder im Kampf erschlug. Apollon geht darauf ins Tempe-Tal um sich zu reinigen und verbannt sich dann selbst, als Sühne für das Blutvergießen, als Sklave an den Hof des thessalischen Königs Admet. Damit schafft er den ersten „Präzedenzfall“ dafür, dass Blut nicht nach Blut schreit. Dass Mord auch anders gesühnt werden kann, war für die damaligen Moralvorstellungen ein geradezu revolutionärer Gedanke. So klagen denn die Eumeniden, die Rachegöttinnen: „Ihr neuen Götter, die alten Gesetze, Ihr tratet sie nieder!“ (Aeschylos, Eumeniden, 778-779). Diese humanere Form der „κάθαρσης“ (Reinigung) von Blutschuld lässt Apollon durch sein Orakel verkünden.
Hier wird deutlich, dass Apollon in Delphi die Gestalt eines Kulturstifters annimmt, der die ethische Reinheit für sich und die Menschen anstrebt.
Insofern passt es, dass er in die wilde Landschaft von Delphi kommt. Apollon schafft dadurch sozusagen das Vor-Bild, wie der Mensch durch das Licht der Vernunft die instinkthaften Urtriebe und Urbegierden ordnen und beherrschen kann. Dass die Naturkräfte Apollon „gehorchten“ und sein Heiligtum schützten, haben seine Feinde bitter am eigenen Leib erfahren müssen. Als persische Soldaten das Heiligtum plündern wollten um seine Schätze ihrem König Xerxes zu überbringen, zuckten Blitze vom Himmel und Bergspitzen des Parnassos stürzten donnernd herab. Die Perser flüchteten in panischer Angst. Nicht viel anders erging es auch den Galatern und den Kelten. Unwetter, Schneestürme, pestbringende Frösche und Erdbeben schlugen sie in die Flucht.
„Er weiß die Heilung, bannt den bösen Spuk, und jedes Haus wird rein durch seine Macht“, sagt Aeschylos in den Eumeniden (62-63 V.).
Der delphische Apollo zeigt auch Toleranz, da er den ihm selbst so entgegengesetzten Kult des Dyonisos in seinem Tempel zuläßt.
Immer wieder wird auch die Bedeutung der Frage betont, ob eine Handlung aus guter oder böser Absicht erfolgt. So berichtet eine Legende von drei Männern, die auf dem Weg nach Delphi von Räubern überrascht wurden. Der erste wurde überfallen, der zweite rannte davon. Der dritte wollte dem Opfer zu Hilfe eilen, verfehlte jedoch den Angreifer und tötete versehentlich seinen Freund mit dem Schwert. Ihm sagte die Pythia: „Du tötetest den Freund, während du ihn retten wolltest. Sein Blut hat dich nicht befleckt, deine Hände sind rein geblieben.“ Dem, der davongelaufen war, ließ sie aber sagen: „Als ein Freund in Gefahr war, hast du ihm nicht beigestanden, obwohl es auf der Hand lag. Ich werde dir nicht antworten. Verlaß den Tempel.“
Bereits im 8.Jh. v.Chr. gewinnt Apollon in Gestalt des pythischen Orakels an Einfluss zu gewinnen. Es kommen Weihegeschenke aus Thessalien, der Peloponnes und aus Kreta nach Delphi, die von der schon damals überregionalen Bedeutung des delphischen Orakels zeugen.
Eine Besonderheit unterscheidet jedoch Delphi von den anderen Orakelstätten, wo vorwiegend persönliche Fragen wie „Soll ich heiraten?“ oder „Ist meine Frau mir treu?“ gestellt wurden: Hier in Delphi ging es um die große Politik. Dem Orakel in Delphi wurden wie sonst keinem Orakel Entscheidungen von höchster politischer Wichtigkeit vorgelegt. Maßgeblich beteiligt war Delphi an den griechischen Koloniegründungen des 8. Jh. v.Chr. im gesamten Mittelmeerraum. Bei Staatsgründungen oder beim Einsetzen von Stadtverfassungen wurde das Orakel befragt. So wurden die Gesetze des Lykurgos von Sparta erst gültig, nachdem sie von Delphi als „άριστε“ bezeichnet, also gutgeheißen worden waren.
Auffällig ist, dass die Orakel, die Apollo durch seine Seherin, die Pythia, verkündete, oft mehrdeutig und nicht leicht verständlich waren. Berühmt geworden ist ein falsch ausgelegtes Orakel im Fall des lydischen Königs Kroisus. Auf seine Frage, ob er die Perser angreifen sollte, erhielt er die Antwort, er würde ein großes Reich zerstören, wenn er den Grenzfluß Halys überschreiten würde. In der Annahme, das Perserreich sei gemeint gewesen, begann Kroisos den Krieg und -verlor. So wurde sein eigenes großes Reich, Lydien, zerstört.
Apollon hat es den Ratsuchenden wahrlich nicht leicht gemacht, seine Orakel zu verstehen. Es stellt sich die Frage, weshalb er mit den mehrdeutigen Antworten den Menschen solches Kopfzerbrechen bereiteten wollte, denn wenn das nicht seine Absicht gewesen wäre, hätte er sicher einfacher antworten können. Vielleicht wollte Apollo die Menschen dazu anregen, ihren eigenen Verstand zu gebrauchen? Sehr schwer hatten es zum Beispiel auch die Athener, die vor der Seeschlacht bei Salamis (480 v.Chr.) das Orakel befragten. Zunächst bekamen sie die niederschmetternde Antwort, die durch Herodot überlieferte:
„Arme! Was sitzt ihr noch hier? Wohlan, bis ans Ende der Erde
Flieht aus dem Haus, aus der rundlichen Stadt hochragenden Felsen! Nicht entgeht der Leib,nicht das Haupt dem grausen Verderben,
Nicht bleiben unten die Füße, die Hände nicht, nichts in der Mitte Unverletzt; denn alles gilt nichts. Niederstürzt es zur Erde
Feuer und Ares’ Wut, der auf syrischen Wagen einherfährt.
Doch die eine nicht nur, viele andere Burgen zerstört er.
Viele Tempel der Götter gibt er der verheerenden Flamme.
Jetzt schon stehen triefend vor Schweiß die unsterblichen Götter, zitternd und bebend vor Furcht, von den obersten Zinnen der Tempel rinnt dunkles Blut, zum Zeichen des Zwanges des kommenden Unglücks.
Fort aus dem Heiligtum hier! Und wappnet den Sinn gegen Unheil!“
Die erschütterten Athener befragten darauf das Orakel - nun als Schutzflehende - ein weiteres Mal. Nun klang das Orakel etwas milder, aber die Athener hatten große Mühe, es zu deuten:
„Pallas Athene vermag den Olympier nicht zu versöhnen,
mag sie auch flehend ihm nahn, wortreich mit verständigem Rate. Doch dir sag ich ein anderes Wort, wie Stahl fest gegründet:
Ist das übrige alles von Feinden genommen, was Kekrops’
Grenze umschließt und die Schluchten des heiligen Berges Kithairon, dann gibt die Mauer aus Holz der Tritogebornen weitschauend
Zeus unbezwungen allein, dir und deinen Kindern zu Nutze.
Doch erwarte du nicht der Reiter Schar und das Fußvolk
Ruhig auf festem Boden! Entweiche dem drohenden Angriff,
Wende den Rücken ihm zu! Einst wirst du ja dennoch sie treffen. Salamis, göttliche Insel, die Kinder der Frauen vertilgst du,
Sei es zu Demeters Saat oder sei es zum Zeitpunkt der Ernte.“
Im Streit der vielen verschiedenen Meinungen, wie das Orakel zu deuten sei, setzte sich schließlich Themistokles durch, der glaubte, mit der „Mauer aus Holz“ könnten die Schiffe gemeint sein, und den Rat gab, sich zum Kampf mit Schiffen zu rüsten. Außerdem war Themistokles der Ansicht, der Spruch der Pythia sei gegen die Perser und nicht gegen die Athener gerichtet, weil es sonst nicht „Göttliche Salamis“ sondern „Schreckliche Salamis“ hätte heißen müssen. Der Fortgang der Geschichte zeigt, dass Themistokles das Rätsel richtig gelöst hatte, die Griechen schlugen in der Seeschlacht bei Salamis die übermächtige Perserflotte vernichtend.
Man sieht, wie die Gedankenkräfte der Menschen durch diese rätselhaften Orakel angeregt wurden, ein weiterer Hinweis auf die kulturstiftende und Menschen zum eigenen Denken herausfordernde Eigenschaft des delphischen Apollon.
Im Gegensatz zu den eher sportlich geprägten Spielen von Olympia standen bei den Pythischen Spielen in Delphi zu Ehren des Apollon, obwohl auch sportliche Agone stattfanden, die musischen Wettbewerbe im Vordergrund.
Dass dies in erster Linie ein Platz der Künste und der Weisheit war, zeigen auch die auf den Wänden der Vorhalle des Tempels angebrachten Sprüche der Sieben Weisen wie das „Erkenne dich selbst“ und „Nichts im Übermaß“.
Anders als bei anderen Heiligtümern lag die Verantwortung für Delphi nicht in der Hand einer einzelnen Polis, wie beispielsweise Elis für Olympia verantwortlich war. Die Stadt Delphi bleib über die Jahrhunderte bescheiden, stand aber unter dem Schutz der Amphiktyonie, einem Bund benachbarter Städte und Stämme, die für die Sicherheit des Heiligtums eintraten und notfalls, wie bei den heiligen Kriegen zwischen dem 8. und 4. Jh. V.Chr., auch kämpften. Gleichzeitig erhielt sich die Priesterschaft von Delphi dadurch eine weitgehende Unabhängigkeit von der Willkür einzelner Städte oder ihrer Machthaber.
Es gibt noch viele weitere Besonderheiten und Rätsel in Delphi. Ungelöst ist beispielsweise bis heute, wie die Pythia in die Rauschzustände kam, unter denen sie die Antworten auf die Orakelfragen verkündete. Die einen sagen, es seien berauschende Gase aus der Erdspalte aufgestiegen, auf der sie saß, andere meinen sie hätte berauschende Blätter gekaut.
Eigenartig ist auch, dass das Orakel vollzogen werden durfte, wenn der Gott einverstanden war, was durch eine Probe festgestellt wurde. Als man diese Regel einmal mißachtete, bezahlte das die damalige Pythia mit ihrem Leben.
Ungeklärt ist auch der Zweck des schönen Rundtempels bei der Athena Pronaia, dem Athenaheiligtum unterhalb des Apollontempels.
Mit dem Aufkommen des Christentums kam der Untergang der einst so mächtigen Orakelstätte.
„Ein hebräischer Knabe, größer als alle Götter, befiehlt mir,
Dieses Haus zu verlassen, in den Hades zurückzukehren.
Verlaß also schweigend unsere Altäre.“
Dies wurde dem römischen Kaiser Augustus geantwortet auf seine Frage, wer sein Erbe antreten würde.
Im 4. Jh. n.Chr. schließlich verkündete das Orakel selbst sein Ende:
„Sagt es dem Herrscher: Zerstört ist die kunstgesegnete Stätte;
Phoibos hat keine Heimstätte mehr und keinen prophetischen Lorbeer;
Nicht mehr dient ihm die Quelle, verstummt ist das murmelnde Wasser.“
Obwohl das Orakel verstummt ist, kommen auch heute Tausende von Besuchern nach Delphi, um sein weltberühmtes Apollon-Heiligtum und die einzigartigen Schätze seines archäologischen Museums, beispielsweise den unvergleichlichen Wagenlenker, zu bestaunen. Oder um von den längst vergangenen Zeiten zu träumen, als die Götter so nah bei den Menschen waren, dass sie deren Fragen nicht nur hörten sondern sie - wenn auch in Rätseln - beantworteten.
Wer Delphi kennt, wird zustimmen, dass es mit oder ohne die Weissagungen der Pythia einer der faszinierendsten Orte Griechenlands ist.