Wie der Puls der nordgriechischen Metropole tickt, lernt man am besten, wenn man seinen Spaziergang am Weißen Turm, dem Wahrzeichen Thessalonikis beginnt. Thessaloniki, die nordgriechische Metropole am Thermaischen Golf, ist immer eine Reise wert. Und das nicht allein aufgrund ihrer jahrtausendealten Geschichte. Besonders reizvoll und modern präsentiert sich die Uferpromenade im Zentrum der Stadt, die sich nach jahrelangen Bauarbeiten seit September 2009 in neuem Glanz präsentiert. Auf der rund zwei Kilometer langen Leoforos Nikis zwischen dem Weißen Turm, dem Wahrzeichen der Stadt, und dem Hafen pulsiert zu jeder Tages- und Jahreszeit das Leben. Hier lässt es sich wunderbar flanieren, und hier lassen sich allabendlich von einem der unzähligen Cafés, Bars und Restaurants aus atemberaubende Sonnenuntergänge genießen – bei guten Sichtverhältnissen scheint der Olymp, der sich am Horizont wuchtig aus dem Meeresblau erhebt, zum Greifen nah. Dabei ist es fast egal, ob man im Sommer oder im Winter in der Stadt ist. Die Cafés entlang der Flaniermeile sind dank Heizkörpern das ganze Jahr über ein vor allem für Jugendliche attraktiver Aufenthaltsort. Man ist als Besucher immer wieder von dem lebendigen, ewig jugendlichen Treiben erstaunt. Hunderte von jungen Leuten, die zum Studium aus ganz Griechenland, aber auch dem Ausland nach Thessaloniki gekommen sind, sitzen oder stehen tagein- tagaus vor den Lokalen, plaudern, tanzen oder spielen Backgammon. Doch auch wer seine Ruhe haben möchte, kann hier bei einem Kaffee seinen Blick über das Meer schweifen und sich wunderbar von seinen Gedanken treiben lassen.
Thessaloniki verfügt über mehrere Hochschulen, an denen über 50.000 junge Menschen studieren. Nicht zuletzt ihrer Anwesenheit hat die Stadt ihren unwiderstehlichen jugendlichen Charme zu verdanken.
Keine andere griechische Stadt ist so oft besungen und mit so vielen Beinamen bedacht worden wie Thessaloniki. Im Volksmund kennt man sie als „Armenmutter“ und „Braut des Nordens“, als „Madre d‘ Israel“ oder „Jerusalem des Balkans“, als „Mauerblümchen“ im Schatten Athens und „Neben-Hauptstadt“. Die Vielzahl dieser Attribute kommt nicht von ungefähr.
Ein durchgängiges Motiv der langen und bewegten Geschichte der Stadt ist ihre kulturelle und religiöse Mannigfaltigkeit. Das war in der Antike so und prägte den Charakter der Stadt auch in späteren Epochen. Ein Schmelztiegel der verschiedenen Ethnien und Religionen war die Stadt unter der fast 500jährigen osmanischen Besatzung, Vielfalt und Gegensätze zeichneten sie auch in der jüngeren Vergangenheit aus. Heute ist die mit über 1 Million Einwohnern zweitgrößte Stadt Griechenlands ein dynamischer Mix aus kosmopolitischem Flair und balkanischer Provinzialität.
Noch bevor Saloniki 1430 Teil des Osmanischen Reiches wurde, fiel es wiederholt fremden Mächten – u. a. Sarazenen, Normannen, Bulgaren, Venezianern – in die Hände. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts siedelte sich eine große Zahl aus Spanien stammender sephardischer Juden an, die der Stadt schon bald ihren Stempel aufdrückten und bis Mitte des 20. Jahrhunderts, als der Nationalsozialismus dem jüdischen Leben ein grausames Ende bereitete, ihr wirtschaftliches sowie kulturelles Leben nachhaltig prägten. Als Auffangbecken von Flüchtlingsströmen trat Saloniki auch 1923 in Erscheinung, als es in Folge der „Kleinasiatischen Katastrophe“ ca. 100.000 griechischen Flüchtlingen aus Anatolien eine neue Heimat bot. Doch Thessaloniki hat nicht nur seit jeher Menschen aufgenommen, immer wieder schickte es seine „Kinder“ auch fort: 1923 entließ es seine muslimischen Bürger in die von Kemal Atatürk – ebenfalls ein Sohn der Stadt – gegründete Türkei. In den 50er und 60er Jahren fungierte Saloniki als Ausgangspunkt für die massenhafte Arbeitsemigration von mehreren Hundertausend Nordgriechen in die Industrieländer West- und Mitteleuropas. Neuerdings prägt eine andere Art ethnischer und kultureller Vielfalt das Stadtbild. So hat der internationale Handelshafen eine große ökonomische Bedeutung für den gesamten Balkan. Die jährlich stattfindende internationale Handelsmesse HELEXPO ist die bedeutendste Industrie- und Handelsmesse Griechenlands und nicht zuletzt Ausdruck des ökonomischen Potentials der Stadt. Um die angespannte Verkehrssituation auf den Straßen der Stadt zu entlasten, wird zurzeit eine Metrolinie gebaut, deren ursprünglich für 2013 geplante Inbetriebnahme in Folge archäologisch relevanter Funde höchstwahrscheinlich verschoben werden muss.
Einen fruchtbaren wissenschaftlichen Austausch mit den Balkananrainern garantiert seit Jahrzehnten das angesehene Institut für Balkanstudien.
Trotz der Probleme, die durch den notwendigen Anpassungsprozess an die Herausforderungen der Zeit (u. a. Globalisierung und internationale Arbeitsteilung, Deindustrialisierung, Migration, Bildungsflucht) entstehen, erweist sich der urbane Organismus Thessaloniki als lebendiges, im Alltag erfahrbares Bindeglied zwischen Geschichte und Moderne.
Zu den Kulturhighlights gehören unter anderem die seit 2004 jährlich stattfindende Buchmesse und das größte Filmfestival Südosteuropas, das im letzten Jahr seinen 50. Geburtstag feierte. In der Gegenwart erlebbar wird die Geschichte der Stadt schließlich auch bei einem Besuch der orientalisch anmutenden Märkte im Herzen der Stadt oder in den zahllosen Tavernen, die mit ihrem geradezu grenzenlosen kulinarischen Reichtum und oftmals mit Rembetiko-Musik eine permanente Versuchung darstellen.
Niki Eideneier / Theo Votsos
Geschichte:
Gegründet wurde Thessaloniki als Morgengabe für eine schöne Frau. Der makedonische König Kassandros schuf sie 315 v. Chr. zu Ehren seiner Gattin Thessalonike, Halbschwester Alexander des Großen. Auf der Höhe ihrer Blüte war sie nach Konstantinopel zweitwichtigste Stadt des Byzantinischen Reichs. Hier verkündete Apostel Paulus um 50 n. Chr.das Christentum. Von hier aus zogen später auch die „neuen Apostel“ Kyrillos und Methodios los, um den Völkern auf dem Balkan das Christentum und die erste slawische Schrift zu bringen.
Internationales Filmfestival Thessaloniki
Einen herausragenden Platz im Kulturkalender Thessalonikis nimmt schon seit vielen Jahren das jeden November stattfindende Internationale Filmfestival ein. Das Festival präsentiert die jährliche griechische Kinoproduktion und bietet darüber hinaus einen repräsentativen Überblick über die aktuellen Strömungen des weltweiten Filmschaffens. Was 1960 als „Woche des griechischen Films“ begann, hat sich in den 50 Jahren seines Bestehens zu einem der beliebtesten internationalen Festivals und zum größten Kinoevent Südosteuropas gemausert. Rund 150.000 filmbegeisterte Zuschauer strömen jeden November in die Kinosäle am Aristoteles-Platz und am Hafen von Thessaloniki. Das Festival 2009 widmete dem bekannten deutschen Regisseur Werner Herzog eine umfassende Hommage und ehrte ihn mit einem Goldenen Alexander für sein Lebenswerk. Der Preis wurde ihm vom griechischen Altmeister Theo Angelopoulos übergeben.