Der Name von Nikos Kazantzakis bildet heute einen Begriff für die Gebildeten vieler Länder. Seine Bücher werden fast auf der ganzen Welt gelesen. Sein Werk wurde nicht nur zum wichtigen Bestandteil der neugriechischen Literatur, sondern gleichsam auch zum Gemeingut der Menschheit. Es ist sogar so, dass Kazantzakis zunächst zu Weltruhm gelangen musste, um - konventionell gesehen - in seiner Heimat anerkannt zu werden. Heute noch wird der namhafte Kreter im griechischen literaturgeschichtlichen Schrifttum zum Teil stiefmütterlich behandelt. In seiner wiederholt revidierten „Geschichte der neugriechischen Literatur“ widmet ihm K.Th. Dimaras nicht einmal eine ganze Seite. Und zur Begründung führt er das Argument ins Feld, Kazantzakis gehöre eigentlich nicht so sehr der Literaturgeschichte im engeren Sinne des Wortes an.
Trotz des Weltruhms ist Kazantzakis im Ausland in mancher Hinsicht ein Unbekannter. Wertvolles Material, das sein Leben und seinen Werdegang beleuchtet, kennen selbst begeisterte Freunde Kazantzakis’ nicht. Spärlich sind die fundierten Betrachtungen seiner Leistung. Die Situation illustriert die Beziehung des Auslands zur neugriechischen Literatur überhaupt. Es ist bedauerlich, aber man kann es nicht leugnen: Trotz aller wertvollen Bemühungen zur engeren Gestaltung der kulturellen Beziehungen Griechenlands mit dem Ausland hat man ausserhalb der griechischen Grenzen ein höchst lückenhaftes, einseitiges und nicht selten verzerrtes Bild vom neugriechischen Schrifttum. Das ist die Folge nicht nur objektiver Schwierigkeiten (Sprache usw.), sondern auch eines durch den Massentourismus begünstigten Dilettantismus. Darunter leidet selbst das „Image“ eines so bedeutenden Intellektuellen wie Kazantzakis.
Nikos Kazantzakis wurde am 18. Februar 1883 in Iraklio[n] auf der Insel Kreta geboren. Gegen die offenbar auf einer menschlichen Schwäche und seiner notorischen Angst vor dem Tod beruhende Behauptung des Dichters, er sei im Jahr 1885 geboren, spricht neben anderem eine eigenhändige Notiz in seinem Schülerheft. Sein Leben war sehr reich ausgefüllt: juristische Ausbildung in Athen (1902-1906), philosophische Studien in Paris (1907-1909), amtliche Praxis als Generaldirektor an dem vom berühmten griechischen Staatsmann Eleftherios Venizelos neu gegründeten Fürsorgeministerium, zahlreiche Reisen, Schriftstellerei, Teilnahme an der liberalen Regierung Themistoklis Sofoulis als Minister ohne Portefeuille (1945), Dienst bei der Unesco (1947-1948).
Als er am 26. Oktober 1957 in Freiburg i.Br. starb, hinterliess er ein Werk von imponierender Vielfalt. Wissenschaftliche Abhandlungen (etwa seine 1930 erschienene zweibändige Geschichte der russischen Literatur), Übersetzungen ins Neugriechische (Homers „Ilias“, in Zusammenarbeit mir Prof. Ioannis Th. Kakridis; Dantes „Göttliche Komödie“, Goethes „Faust“, Werke von Platon, William James, Friedrich Nietzsche, Johann Peter Eckermann, Charles Darwin, Henri Bergson u.a.), Reisebücher (fünf Bände unter dem Titel „Reisend“: Italien, Ägypten, Sinai, Jerusalem, Zypern, Peloponnes, Spanien, England, Japan, China, Russland), Gedichte (vor allem das 33’333 Verse umfassende „Epos“ „Odyss[e]ia“ [„Odyssee“]), Schulbücher, Artikel für Zeitungen und Lexika, dramatische Werke (wie z.B. „Prometheus“, „Julian Apostata“, „Christus“, „Konstantinos Paläologos“) und schliesslich mehrere Romane („Alexis Sorbas“; „Griechische Passion“, griechischer Originaltitel: „Christus wird wiedergekreuzigt“; „Freiheit oder Tod“, Originaltitel: „O Kapetan Michalis“; „Die letzte Versuchung“; das französisch geschriebene Werk „Toda-Raba“, ursprünglicher Titel „Moscou a crié“ u.a.). Eine erschöpfende Kazantzakis-Bibliographie würde den Rahmen der hiesigen Ausführungen sprengen. Schon die obigen, notgedrungen dürftigen Hinweise zeigen jedoch, dass das breite Leserpublikum einen grossen Teil der Schöpfung von Kazantzakis nicht kennt. Bekannt ist in erster Linie der Romanschriftsteller, wozu nicht zuletzt die Verfilmung der „Griechischen Passion“, vor allem aber des „Sorbas“ („Zorbas“) beigetragen hat.
Für den „heroischen Pessimisten“ Kazantzakis, diesen trotzigen Desperado des Geistes, ist nicht zuletzt seine Schrift „Asketik“ („Salvadores Dei“) aufschlussreich. Die „Asketik“ ist ein formal schwer definierbares, einen messianischen Hauch verbreitendes Werk. Es wurde während eines Berliner Aufenthaltes (1922-1923) des Dichters verfasst und erstmals in der Zeitschrift „Anajennisi“ (Juli/August 1927) des griechischen Marxisten Dimitris Glinos (1882-1943) veröffentlicht. In diesem Werk, das in seiner definitiven Gestalt eine bedeutende, von Kazantzakis während seines Russlandaufenthaltes (1928) vorgenommene Änderung aufweist, wird beschrieben, wie die Seele - stufenweise das Ich, das Volk, die Menschheit, die Erde und das All überwindend - Gott erreicht, nämlich die Erkenntnis, dass „die Substanz unseres Gottes der Kampf ist“. In ihrer definitiven Fassung schliesst die „Asketik“ mit einer nihilistischen Aussage: „Selig sind diejenigen, welche Dich erlöst haben, Herr! Sie vereinigen sich mit Dir und sagen: ‚Ich und Du sind eins‘. Und dreimal selig sind diejenigen, welche ungebeugt das grosse, wunderbare, entsetzliche Geheimnis auf ihren Schultern tragen: ‚Und dieses Eins gibt es nicht!‘“
Diese nihilistische Aussage ist auch für das Lebenswerk Kazantzakis’, für die «Odyssia», bezeichnend. Kazantzakis’ Odysseus ist ein Desperado. Insofern ist er nicht identisch mit Dantes Odysseus, der nach Tugend und Erkenntnis (virtute e conoscenca) sucht. Er ist auch von anderen Odysseus-Gestalten weit entfernt - etwa von denjenigen von James Joyce oder von Lion Feuchtwanger, um zwei sich voneinander krass unterscheidende Fälle zu nennen. Der Odysseus des Kazantzakis geht ins Nichts über. Doch „sein Geist wird befreit und weht weiter, nachdem er von seiner eigenen Freiheit befreit ist. Ein Paradox, das sich jedoch in den Hauptgedanken des Epos fügt: die Freiheit des Menschen und die Freiheit seines Geistes, der erst dann wirklich frei werden kann, wenn er nicht mehr an den Menschen gebunden ist“ (Heinz Hofmann, Odysseus, Von Homer bis zu James Joyce, in: Heinz Hofmann, Hrsg., Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, S. 27-67, insbes.S. 59).
Die „Odyssia“ des Kazantzakis ist seine eigene geistige Odyssee. Odyssee im Sinne des geistigen Abenteuers. In den einleitenden Worten zur „Rechenschaft vor El Greco“ beschreibt Kazantzakis sein eigenes Ringen deutlich: „Das Ringen, Stufe um Stufe emporzusteigen und so hoch zu gelangen, wie Kraft und Trotz es führen könnten - zum Gipfel, den ich eigenmächtig den ,kretischen Blick’ genannt habe.“ Das geistige Abenteuer war freilich manchmal auch eine Irrfahrt. Nicht wenige Ausführungen des kretischen Intellektuellen muten merkwürdig, ja inakzeptabel an, so zum Beispiel wenn er in seinem Italien-Reisebuch Mussolini als männlichen Venizelos bezeichnet.
In der Philosophie von Kazantzakis offenbart sich ein grosser Dualismus, der Gegensatz zwischen Materie und Geist, Körper und Seele, Tod und Unsterblichkeit. Ferner zeigt seine Welt- und Lebensauffassung, dass er von gewissen Kreisen Griechenlands seinerzeit zu Unrecht als Kommunist betrachtet wurde. Zwar schreibt er in seiner „Asketik“: „Einmal schufen die Könige, die Priester, die Adligen, die Bourgeois Kulturen und befreiten die Gottheit. Heute ist der Arbeiter Gott, verbittert durch Mühe, Zorn und Hunger.“ Doch an einer anderen Stelle heisst es: „Wir kämpfen nicht für unser Ich, auch nicht für unser Volk, nicht einmal für die Menschheit. Wir kämpfen weder für die Erde noch für die Ideen. All das sind vergängliche und wertvolle Stufen, die Gott bei seinem Aufstieg benutzt. Kaum hat Er sie betreten, sind sie schon eingestürzt.“
In den Augen Kazantzakis’ war die Lösung der sozialen Frage nicht das letzte und entscheidende Thema, sondern nur eine - allerdings wichtige - Etappe auf dem Weg zur grossen Erlösung. Seine Philosophie wurzelt nicht im dialektischen Materialismus, sondern in einer pessimistischen, wenn auch heroischen, Schau, die aus der „metaphysischen Agonie“ des Dichters zu erklären ist. Schon in der Zeit seines Russlandaufenthalts war Kazantzakis ein Verfechter des, wie er selber sagte, „metakommunistischen Glaubens“. Mit dem Marxismus hat er unter dem Eindruck der Oktoberrevolution, der Kleinasiatischen Katastrophe (des für die Griechen unglücklichen Endes des Konflikts mit der Türkei im Jahre 1922) und der revolutionären Regungen im Deutschland der Weimarer Zeit nur geflirtet. Er ist mit ihm nie eine Ehe eingegangen.
Angesichts des messianisch-mystischen Tenors der „Asketik“ ist man versucht, in Kazantzakis einen Antirationalisten zu erblicken, ja einen Schriftsteller, dessen Einstellung antiintellektuell war. So sieht ihn zum Beispiel der Literaturhistoriker Mario Vitti. Doch der Schein trügt. Im Gegensatz zum Lyriker Angelos Sikelianos (1884-1951), mit dem Kazantzakis während einer Periode seines Lebens freundschaftlich verbunden war und der seine mystische Schau nebulös zum Ausdruck brachte, konnte der Verfasser der „Asketik“ seinen Messianismus und Mystizismus durchaus in anspruchsvollen Gedankengängen darlegen. So paradox das auch klingen mag, waren diese Gedankengänge im Grunde genommen sogar weitgehend rational. Der Intellekt spielte bei Kazantzakis trotz aller Beeinflussung durch den Vitalismus Bergsons eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt deshalb war er auch ein guter Lehrmeister, wie ihn Elli Alexiou, die Schwester der ersten Frau des Dichters, Galat[e]ia Kazantzaki, schildert.
Die „Odyssia“ war, wie gesagt, Kazantzakis’ Lebenswerk. Doch der kretische Dichter und Denker wurde eigentlich nicht so sehr durch dieses „Epos“ weltberühmt, sondern in erster Linie durch seine Romane, insbesondere durch den „Sorbas“. Sein Odysseus-Desperado, der auch der Kazantzakis-Desperado ist, fand nicht ein derart breites Echo wie Alexis Sorbas - vor allem natürlich nicht wie der folkloristisch gefärbte Alexis Sorbas des betreffenden Films. Heute noch stellt die „Odyssia“ des Kazantzakis für viele Griechen und Ausländer eine Terra incognita dar. Dies hängt sicherlich weitgehend mit dem Umfang, der Form und der Sprache des Werkes zusammen. Es kommen die Hindernisse hinzu, auf welche die Übersetzungsarbeit stösst. Als ich vor vielen Jahren die Tragödie „Konstantinos Paläologos“ von Kazantzakis ins Deutsche übersetzte, bat mich Eleni Kazantzaki, die zweite Frau des Dichters, auch die „Odyssia“ ins Deutsche zu übertragen. Ich gestehe, dass ich mich nicht nur wegen anderer Beschäftigungen dazu nicht entschliessen konnte, sondern auch angesichts der enormen Schwierigkeiten des Unterfangens. Ich erklärte mich schliesslich lediglich bereit, Gustav A. Conradi (Odyssee. Ein modernes Epos, München 1973) bei der Bewältigung der Aufgabe nach Möglichkeit mit Rat zu helfen.
Die Diskrepanz zwischen der Popularität des „Sorbas“ und der vergleichsweise geringeren Bekanntheit der „Odyssia“ ist indessen auch auf die pessimistische Botschaft des letzteren Werkes zurückzuführen. Das Paradoxon der Befreiung von der eigenen Freiheit ist nicht geeignet, breite Volksschichten anzusprechen. Im bestimmten Sinne ist die Botschaft der „Odyssia“ von Kazantzakis der Kampf ohne Hoffnung. „Besiege die letzte, die grösste Versuchung: die Hoffnung!“, lesen wir in der „Asketik“, auf deren Grundphilosophie die „Odyssia“ beruht. Noch deutlicher sind jene „Asketik“-Worte, die sprichwörtlich geworden sind: „Ich weiss nun; ich hoffe auf nichts, ich fürchte nichts, ich habe mich von Geist und Herz befreit, ich bin emporgestiegen, ich bin frei. Das will ich. Ich will sonst nichts. Ich hatte nach Freiheit gesucht.“ In der Tragödie „Konstantinos Paläologos“ lässt der Dichter den Haupthelden sagen, dass er um das „schreckliche Geheimnis“ wisse: „Kämpfen ohne Hoffnung und tief im Inneren fühlen, wie die Kraft dir selbst in der grössten Hoffnungslosigkeit wächst“, „die wahre Tapferkeit hofft nie.“ Eine solche Botschaft eignet sich nicht für sozialpolitische Kämpfe. Sie reisst die Menschen nicht mit. Sie kann sogar, nicht zu Unrecht, als demoralisierend betrachtet werden. Dabei soll allerdings in Betracht gezogen werden, dass der Kazantzakis der „Odyssia“ nicht der ganze Kazantzakis ist.
Bereits in seiner im Schrifttum leider zu wenig beachteten Jugendabhandlung „Friedrich Nietzsche in der Rechts- und Staatsphilosophie“ schrieb Kazantzakis: „Vergebens versuchen Philosophen und Utopisten, das neue religiöse, wirtschaftliche und staatliche Gefüge der Gesellschaft auf die durch die Wissenschaft immer wieder aufgedeckte Natur zu stützen. Im Gegenteil. Je mehr die Wissenschaft den heiligen Peplos der Isis aufhebt, desto unvereinbarer wird das Ideal der Liebe und der Brüderlichkeit, das bis jetzt der Mensch erträumte und verfolgte, mit dem Ideal, das die Natur zu verfolgen scheint. Die Kluft zwischen Moral und Naturwissenschaft wird immer erschreckender. Die Natur wird blossgestellt als etwas nach menschlichem Empfinden zutiefst Unmoralisches und Monströses, eine harte Stiefmutter für die Zarten und Schwachen, eine blinde und wilde Macht, zerstörend, um zu schaffen, und schaffend, um wieder zu zerstören... Aus dieser dualistischen Quelle der Gesetze gehen die zwei grossen stürmischen, aber auch gegensätzlichen Strömungen des heutigen Geistes hervor.“ Die Jugendabhandlung von Kazantzakis wurde 1908 in griechischer Sprache in Paris verfasst. Ein Jahr später erschien das Werk erstmals in Iraklion. In der Einleitung der von Patroklos Stavrou besorgten neuen Ausgabe, 3. Aufl., Athen 2006 (griechisch), wird die Entstehungsgeschichte dieser Kazantzakis-Schrift skizziert.
Die Ansicht Kazantzakis’ über die „dualistische Quelle der Gesetze“ erklärt viele Gegensätze in seinem Werk - so etwa die Diskrepanz zwischen der feurigen Stellungnahme des Dichters zugunsten der Armen in der „Griechischen Passion“ und der die Keime des sogenannten Rechts des Stärkeren enthaltenden dionysischen Atmosphäre des „Alexis Sorbas“. Diese Diskrepanz offenbart die Haltung, die Kazantzakis angesichts der „Kluft zwischen Ethik und Naturwissenschaft“ einnimmt. An eine Überwindung der Kluft konnte der Dichter mit seinem Verstand nie recht glauben, was seine Skepsis gegenüber den verschiedenartigen Sozialbewegungen erklärt. Die Skepsis kam selbst in jenen kurzen Intervallen zum Ausdruck, in denen Kazantzakis die Lust verspürte, in das politische Geschehen einzugreifen (so war er z.B. 1945 für kurze Zeit Präsident der politisch unbedeutenden „Sozialistischen Arbeiterunion“). Nur sein Herz, das sich von den Impulsen eines nihilistisch gefärbten, doch im Grunde religiösen Messianismus treiben liess, führte Kazantzakis immer wieder, trotz der Bedenken des Verstandes, zu der hohen sozialethischen Auffassung, welche den Werken „Griechische Passion“, „Franz von Assisi“ und „Brudermörder“ zugrunde liegt. In seinem „Sorbas“ bekennt er, nachdem er den Helden des Romans sozusagen die „Philosophie des Übermenschen“ hat vortragen lassen, folgendes: „Ich antwortete nicht; ich fühlte, dass mein Verstand mit Sorbas einer Meinung war, aber dass mein Herz nicht mitmachen wollte. Es war im Begriff, einen Anlauf zu nehmen, dem ‚Vieh‘ zu entrinnen und sich einen Weg ins Freie zu bahnen“ (Übersetzung von Alexander Steinmetz).
In der „Griechischen Passion“ wird der Kampf der besitzlos gewordenen Flüchtlinge um die Neueingliederung zum ewigen Kampf der Gerechten gegen die Ungerechten und des Rechts gegen das Unrecht. Während einige griechische Verfechter des Marxismus die Entstehung und die Lösung des sozialen Problems als „historische Notwendigkeit“ ansahen, quoll somit das Credo Kazantzakis’ aus einer Sozialethik hervor, welche im Drama des nach Gerechtigkeit dürstenden Menschen wurzelt. Für Kazantzakis war die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit nicht ein Müssen, sondern ein Sollen. Diese wertende Schau bedingt freilich auch eine entsprechende Konzeption der Gerechtigkeit. Nach Auffassung des Schöpfers der „Griechischen Passion“ beruht die Gerechtigkeit auf der Gleichbehandlung aller Menschen sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene.
Die Gerechtigkeit ist nach Kazantzakis nicht nur eine objektives Verhalten regelnde Norm. Sie appelliert darüber hinaus an das menschliche Gewissen und fordert eine dieser Norm entsprechende Gesinnung. Der Übergang vom objektiven zum subjektiven Element der Gerechtigkeitsauffassung von Kazantzakis bedeutet gleichzeitig den Aufstieg von der Ebene des Eudämonismus zu derjenigen der Selbstentsagung. Erst von hier aus versteht man, dass diese Gerechtigkeitskonzeption mit einer tiefen Religiosität verbunden ist. Nach Kazantzakis bilden „irdische Gerechtigkeit“ und „Gerechtigkeit Gottes“ eine unzertrennliche Einheit. Den ganzen Roman durchdringt das Anliegen der Regelung irdischer Angelegenheiten gemäss den Geboten göttlicher Gerechtigkeit. Und eben dieses Anliegen bringt Manolios, der Hauptheld des Romans, zum Ausdruck, wenn er z.B. seinen Mitbürgern zuruft: „Wehe dem Bauern, der sich satt isst und nicht an die hungernden Kinder denkt! Für jedes Kind, das deswegen stirbt, tragen wir alle die Verantwortung und seinetwegen werden wir die ewige Verdammnis erleiden.“
Bei dieser und ähnlichen Stellen geht es allerdings dem Dichter und Denker Kazantzakis nicht so sehr um die göttliche Vergeltung, welche Hans Kelsen als einen Widerspruch der christlichen Lehre empfindet (Hans Kelsen, What is justice, Berkeley/Los Angeles 1957, S. 12 f.). Denn es ist nicht die Gottesfurcht, welche in der „Griechischen Passion“ den Ausschlag gibt, sondern die christliche Liebe. Das Hauptanliegen von Kazantzakis besteht vielmehr in der Ablehnung der ihm verdächtig erscheinenden „Doppelheit der Belehrung“, d.h. der Unterscheidung zwischen weltlich-irdischer und geistig-himmlischer Gerechtigkeit. „Eines ist die Gerechtigkeit Gottes, ein anderes ist die Gerechtigkeit der Menschen“, behauptet ein Priester im Roman. Manolios stellt sich aber auf den gegenteiligen Standpunkt: „Die Christen glauben an eine andere Welt. Was heisst das? All unsere Handlungen hier auf Erden werden in einer anderen Welt gewogen werden - die schlechten Taten werden bestraft, die guten belohnt.“ Kazantzakis lehrt somit die Einheit des Gehorsams. Er trennt Irdisches und Himmlisches nicht. Was er Manolios verkünden lässt, ist das Evangelium als eine nicht bloss auf das Jenseits gerichtete, sondern bereits im Diesseits verpflichtende Botschaft. Wie Spinoza sieht Kazantzakis sein Ideal in der Bergpredigt und den Gleichnissen Jesu.
Der Referent befasst sich seit Jahrzehnten mit Nikos Kazantzakis. Sein erster diesbezüglicher Essay erschien 1957 in der deutschen Zeitung „Die Welt“. Es folgten zahlreiche Abhandlungen und Bücher. Wir verweisen z.B. auf folgendes: Pavlos Tzermias, Nikos Kazantzakis und die Gerechtigkeit, Zürich 1963; derselbe, Zum Gerechtigkeitsgedanken in Kazantzakis‘ „Griechischer Passion“, Overdruck uit Neophilologus, XLIII, no. 4; derselbe, Kazantzakis und die Vertriebenen, Neue Deutsche Hefte 1959, S. 1014 ff.; derselbe, Übersetzung der Tragödie „Konstantinos Paläologos“ ins Deutsche, Zürich 1964; derselbe, zahlreiche Beiträge über Nikos Kazantzakis in der Neuen Zürcher Zeitung; derselbe, Die neugriechische Literatur, Homers Erbe als Bürde und Chance, Tübingen 2001, S. 130 ff.; derselbe, Kreta von Knossos bis Kazantzakis, Wanderung durch eine faszinierende Kultur, Verlag Dr. Thomas Balistier, Mähringen 2003; derselbe, Aspekte der griechischen Philosophie von der Antike bis heute, Tübingen 2005, S. 206 ff. Mit seiner Feder trug Pavlos Tzermias entscheidend zur Rezeption des Werkes Kazantzakis‘ vor allem im deutschen Sprachraum bei.