Bisher unveröffentlichte Märchen aus dem vom Ionischen Meer nach West-Makedonien und Thessalien sowie von der albanischen Grenze bis nach Zentralgriechenland sich erstreckenden Epirus, wo sich wie kaum in einer anderen Region Griechenlands überliefertes Volksgut bis in die heutige Zeit der Globalisierung und Assimilation hinüber gerettet hat, haben der gebürtige Hamburger Thede Kahl, der als Forscher am Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Institut in Wien arbeitet und Geografie lehrt, und der Grieche Andreas Karzis zusammengetragen und aufgeschrieben.
Zusammen mit ansprechenden farbigen Zeichnungen von Joannis Chryssos gaben die beiden Autoren die Märchen jetzt in einem zweisprachigen - Griechisch-Deutsch - Sammelband im Kölner Romiosini Verlag heraus. Es war einmal...: "Sobald diese magischen Worte ertönten, wurden die Anwesenden in eine andere Welt versetzt. In eine Welt der Könige, Königstöchter, Feen, Zauberinnen, Drachen, Zwerge, sprechenden Tiere, reichen und armen Menschen, in eine andere Welt, die Märchenwelt. Als Bewahrer einer patriarchalisch geprägten Familie prägten Großeltern und Eltern auf diese Weise die Gefühlswelt der Kinder. In den Märchen und Geschichten spiegeln sich ihre Lebenserfahrungen", schreiben Thede Kahl und Andreas Karzis in den einführenden Worten ihres Buches.
Gerade die griechischen Volksmärchen seien mit ihrer blumigen Sprache höchst originelle Schöpfungen, in denen sich das Wahrscheinliche und Unwahrscheinliche, das Tatsächliche und das Erdachte nicht mehr auseinander halten lasse. Doch durch die Errungenschaften der Moderne und die gesellschaftlichen Veränderungen gebe es heute kaum noch Märchenerzähler, die mit ihren Geschichten Kinder erziehen könnten. "Immer mehr beziehen die Kinder ihr Wissen aus der Schule, dem Fernsehen, dem Internet. Mit der Zeit hat sich die mündliche Überlieferung nicht nur verändert, sondern ist zum großen Teil verschwunden", bedauern die beiden Autoren, deren Buch eigentlich ein Nebenprodukt von Feldforschungen zu verschiedenen Themen der Volkskultur ist.
Auf ihren Reisen durch den Epirus baten Kahl und Karzis Gesprächspartner, ihnen das eine oder andere Märchen zu erzählen. Überrascht stellten sie dabei fest, dass "weder der unangekündigte Besuch noch die unerwartete Frage nach Märchen" jemanden zu stören schienen. Die Geschichten, die ihnen von meist alten Menschen unter Einsatz von Händen und Füßen erzählt wurden, haben sie dabei auf Kassette aufgenommen und anschließend Aussprache getreu zu Papier gebracht, ohne Eingriffe vorzunehmen. Auf eine ausführliche Analyse der gehörten Märchen verzichten die beiden Autoren, verweisen vielmehr auf andere Märchensammlungen und Forschungsergebnisse.
Mit einer Ausnahme druckten sie keine Märchen nach, die bereits in anderen Werken erschienen sind. "Die Personen, die sich bereit erklärten, uns Märchen zu erzählen, schöpften aus dem Repertoire, das sie von ihren Eltern oder Großeltern gelernt haben. Sie hatten sich ihre Kenntnisse also nicht aus der Schule oder privater Lektüre angeeignet. Manche von ihnen waren nicht einmal des Lesens und Schreibens mächtig", erklären Kahl und Karzis. "Ihre" Märchenerzähler stellen die beiden Autoren in einem Extrakapitel vor, auf einer Landkarten sind die Orte eingezeichnet, wo die jeweiligen Märchen erzählt wurden. Die in der vorliegenden Sammlung aufgeführten Geschichten stellen zum Teil offenbar eine epirotische Variante dar, die in ähnlicher Form in den Nachbarländern zu finden sind. Meist beginnen die Märchen mit "Es war einmal", sie enden allerdings nicht, wie man es hier kennt, mit "und wenn sie nicht gestorben sind...". Oft lautet der letzte Satz: „Und sie lebten gut und wir leben noch besser!" Außerdem enden nicht alle Geschichten gut wie zum Beispiel "Der Zigeuner mit dem vlachischen Taufpaten", darin verlässt ein Zigeunerpaar zu früh seinen Winterwohnsitz und verliert deshalb sein Kind, "Die beiden Geschwister", die beide zu Tode kommen, oder "Die Königstochter und die Weintrauben".
Eher Prophezeihung als Märchen ist die Geschichte "Die drei Schicksalsfrauen", die erklärt, warum die Leute glauben, "dass am dritten Tag eines jeden Menschen auf der Stirn geschrieben steht, was ihm widerfahren wird und wann er sterben wird".
Als ein "prächtiges Beispiel individueller und kollektiver Vorstellungswelten, die nicht nur in Traditionen wurzeln, sondern diese auch ihrerseits beeinflussen" bezeichnet Karolos Papoulias, der Präsident der Republik Griechenland, in seinem Vorwort die epirotische Märchensammlung von Thede Kahl und Andreas Karzis.
Thede Kahl & Andreas Karzis (Hrsg.)
„Märchen aus dem Epirus
ISBN 978-3-929889-83-3 (Romiosini Verlag)
ISBN 960-12-1520-4 (University Studio Press)