Ich bin nichts als ein Glasauge, ein armes Glasauge – und doch, auch ich habe meine Geschichte. Meine Geschichte hat keine Handlung – welche Handlung kann ein armes farbiges Glas haben? - doch ihre Umstände sind derartig, dass sich die Mühe lohnen mag, dass ich davon erzähle.
Ich erinnere mich dennoch nicht an mein Leben, außer von dem Tag an, an dem ich mich in einem Schaufenster wiederfand, in einem kleinen Pappschächtelchen, das mit Watte ausgelegt war, zusammen mit vierzehn anderen Glasaugen genau wie ich, vorsichtig der Reihe nach und entsprechend ihrer Farbe hineingelegt, denn jedes von den vierzehn Glasaugen hatte seine eigene Farbe. Das letzte, rechts, war ein schwarzes, lebhaftes Auge – ein Auge mit tiefschwarzer Pupille, ein „afrikanisches“ Auge, mit glänzenden, schimmernden Reflexionen. Das neben ihm war heller. Die nächsten waren braun, von rotbraun bis honigfarben. Es schlossen sich die dunkelgrauen an bis zum grau-blauen, dem meerfarbenen. Die letzten waren alle blau. Ich war zwischen honigfarben und aschgrau untergebracht. Ich war ein dunkelgrünes Auge – ein außergewöhnliches Auge, ohnegleichen in seiner Art, konnte man sagen …
Ich weiß nicht, welch ein teuflischer Zufall meinen Schöpfer veranlasste, mich so grün zu färben! Solche Augen gibt es nicht bei den Menschen – oder, wenn es sie doch gibt, sind sie so selten, dass man jahrelang suchen muss, um sie zu finden … Und trotzdem habe auch ich meinen Menschen gefunden! Doch das werden wir später sehen …
Wir lagen in der Mitte des Schaufensters. Um uns herum befanden sich andere ungewohnte Sachen – Thermometer, Barometer, Ferngläser und Brillen. Es gab auch ein großes Teleskop, auf einem Stativ aufgestellt, und alle möglichen Apparate und eine Menge Instrumente. Nachts unterhielten wir uns untereinander, und jeder erzählte das Seinige.
Hinter der Scheibe des Schaufensters sahen wir – insbesondere wenn die Lichter angingen – wie die Menschen hereinglotzten. Diese starrten auf uns, aber noch mehr, scheint mir, starrten wir auf sie … Sie gingen vorbei und betrachteten uns, eine Menge von neugierigen Menschen, die einen klein und glatzköpfig, mit aufgeblähten Backen, die anderen großgewachsen, dürr wie Billardstöcke, ein Haufen Frauen und Kinder. Die meisten, die uns anschauten, erschauderten. Es erschreckte sie unser kalter Ausdruck, unsere schreckliche todesgleiche Unbeweglichkeit. Doch sie hatten nicht recht. Denn auch ein farbiges Glas kann sein eigenes Leben haben. Vielleicht aber erschraken sie im Grunde auch, weil ihnen unfreiwillig die irgendwie erschütternde Idee in den Kopf kam, dass sie uns eines Tages benötigen könnten … Ich weiß nicht, wie die Menschen denken, und ich kann nicht in ihren Kopf hineinsehen …
Eines Tages wurden wir plötzlich weniger. Von den fünfzehn, die wir waren, blieben nur noch zehn übrig. In dieser Zeit hörten wir oft das Wort „Krieg“. Es scheint so, dass die Menschen, wenn sie übermäßig die Erde bevölkern und es keine Möglichkeit mehr gibt, dass sie Platz finden, anfangen, sich gegenseitig umzubringen und sich ihre Arme und Beine abhacken, damit sie kleiner werden und weniger … In diesem ungeheuren Durcheinander passiert es manchen, dass sie sich sogar ihre Augen ausstechen! Aber auch das kann ich nicht verstehen …
Und später wurden wir noch viel weniger. Als ich dann sah, dass meine Geschwister in die Fremde gingen, spürte ich etwas wie Kummer. Mir war es im Schaufenster langweilig geworden und ich wollte mich in die Welt hinausbegeben, mich ins Leben stürzen, neue Empfindungen verspüren … Der Anlass für diese Untätigkeit, das spürte ich, war meine seltene Farbe. Wo sollte sich mein Mensch finden, der solche dunkelgrünen Augen hatte und dem es beschieden war, blind zu werden, damit er Zuflucht zu meinem Glasauge suchte? … Doch auch dieses Ereignis ergab sich eines Tages – und ich hatte unrecht, ohne Zweifel, dass ich so sehr mit meinem Schicksal gehadert und meinen Schöpfer verflucht hatte, der mich dazu verurteilt hatte, dass ich wegen meiner Farbe nutzlos blieb, am Boden meiner Schachtel, und ich selbst nichts, keinen Trost, dieser Welt anbieten konnte!
Es war ein braungebrannter junger Mann, der im Krankenhaus lag – ein Prachtkerl von Kopf bis Fuß, mit einem Verband über seinem linken Auge, mit einem schwarzen und großen Tuch schief über seiner Stirn. Er hatte sein Auge im Krieg verloren, auch er von einem Splitter einer Handgranate. Sie hatten ihn ins Krankenhaus gebracht, verletzt und alleingelassen. Er hatte fünf Monate im Krankenbett zugebracht, die ersten zehn Tage mit dem Tod gerungen. Doch schließlich hatte er es geschafft und war davongekommen. Das alles habe ich später erfahren. Er war Feldwebel bei der Artillerie. Ich hatte zeitlebens keinen derartigen tapferen und hübschen Burschen mit einer solchen schlanken Figur gesehen … Er ging an Krücken, die er aber später wegwarf. Ein kaum wahrnehmbares Hinken seines Beins verlieh ihm neue Schönheit. Ich mochte ihn sofort, kaum dass ich ihn gesehen hatte!
Als wir zum ersten Mal auf die Straße hinausgingen – ich war wirklich genau passend zu seinem anderen, seinem richtigen Auge – drehten sich alle um, um uns anzuschauen. Ich war ganz stolz auf sein großes Glück …
Ich lernte seinen Heimatort, sein Haus, seine alte Mutter und seine Geschwister kennen. Unser Leben würde hervorragend ablaufen und es schien ruhig zu verlaufen. Ich begann ebenfalls, Mut zu fassen …
Doch in der Zwischenzeit hatte ich etwas anderes bemerkt: dass mich sein anderes Auge, sein richtiges Auge, schief anschaute und mich hasste! Anscheinend erinnerte es sich an sein Gegenstück und konnte es nicht vergessen … Es sah in mir sein Abbild, seine tragische Fälschung – und es konnte sich nicht an mich gewöhnen …
Und was habe ich nicht alles getan, um es milde zu stimmen, um seinen Kummer zu lindern! Das Auge sah mich traurig an … Umsonst nahm ich den Glanz und das lebhafte Funkeln des verlorenen richtigen Auges an … Je besser ich meine Rolle spielte, desto mehr hasste mich das andere Auge!
Das konnte so nicht weitergehen. Ich fühlte mich selbst fremd, ohne Hoffnung, dass wir uns jemals versöhnten … Ich war wie ein unangenehmer und unerwünschter Genosse! Unsere Ehe war, bei aller Ähnlichkeit der Farbe und der Übereinstimmung, eine unglückliche Ehe …
Mir fiel mein Pappschächtelchen im Schaufenster wieder ein, das mit Watte ausgelegt war. Ich sehnte mich nach meinem ruhigen und sorglosen Leben zurück, in der abgelegenen Ecke des Ladens, damals, als mich und die anderen – zu unserem Glück, wie es scheint – ein dickes Kristallglas voneinander getrennt hatte …
Und dieses Auge sah mich im Spiegel an und es erlosch jeden Tag mehr. Ich sah, wie es jeden Tag verkümmerte, seinen Glanz und seine Wärme verlor – wie es allmählich wie die Blume verwelkte … Und der hübsche, braungebrannte Bursche, der Bursche „mit dem Glasauge“, starb eines Nachts, ganz plötzlich …
Ich beobachtete seinen Tod. Unsere beide Schicksale waren vereint, vereint über den Tod hinaus! Ich beobachtete seinen ganzen Todeskampf bis zum letzten Atemzug … Ich spürte die Kälte des Todes, die eisige Steifheit seines Körpers. Ich hörte das Weinen seiner Mutter. Ich verfolgte sein trauriges Begräbnis bis zu der Stunde, als sie uns zusammen begruben …
Danach breitete sich um uns herum eine tiefe Stille für viele Jahre aus … Ich glaubte, ich wäre selbst gestorben …
In der Erde, wo sie uns begraben hatten, war nichts zu hören, jahrelang, als ob uns alle vergessen hätten ...
Und eines Abends purzelte ich auf den Boden des Schädels, wo ich jahrelang liegen blieb.
Ich blieb, ich weiß nicht wieviele Jahre, in der tiefen und unendlichen Dunkelheit … Ich dachte in meiner Einsamkeit an die Zeit, als ich im fernen Schaufenster herumblickte, mit den dicken und glatzköpfigen Menschen, und mit den anderen, den großgewachsenen und dürren, zusammen mit meinen anderen, gläsernen Geschwistern, inmitten der Barometer und der Teleskope … Ich sah es wie einen Traum, in meinem dunklen Schlaf, der wie mir schien kein Ende nehmen wollte, kein Ende nehmen wollte, niemals mehr …
Dann wieder hatte ich lange Zeit gar keinen Traum. Ich hatte mich an die Dunkelheit gewöhnt. Ich hatte keinerlei Verlangen nach Leben mehr noch irgendeine Hoffnung auf irgendetwas …
Und plötzlich, nach ich weiß nicht wievielen Jahren – Jahren des Todes, der Dunkelheit und des Schweigens – befand ich mich eines Morgens wieder am Tageslicht!
Zuerst hatte ich einige entfernte Geräusche gehört, einige hohle und unterdrückte Geräusche, die ich mir nicht erklären konnte. Danach war der Lärm stärker geworden, als näherte er sich der Stelle, wo ich mich befand. Und dann, plötzlich, sah ich die Sonne! Ich war anfangs geblendet und wusste nicht, was los war … Aber schnell merkte ich, was ablief: Ich sah die Geschwister des Burschen – doch wie sehr waren sie gealtert und verändert – die sich über das geöffnete Grab beugten: Sie brachten die Mutter des Burschen, um sie im gleichen Grab zu beerdigen ...
Sie fanden mich am Boden des Schädels und nahmen mich heraus, mit Tränen in den Augen …
Ich erinnerte mich an den hübschen jungen Burschen: Ich erinnerte mich an seine ganze Schönheit, mit seinem dunklen Gesicht und seiner schlanken Figur. Ich erinnerte mich an sein kaum wahrnehmbares Hinken – und dann an das Auge, das mich hasste … Aber all das gab es jetzt nicht mehr, nichts – sondern nur ein Säckchen Knochen, übereinandergeschichtet und gelblich …
Auch das Auge, das gehasst hatte, gab es nicht. Es existierte nichts mehr außer nur ich selbst – die einzige Erinnerung an die grünen Augen, auch an das verschwundene, welches gehasst hatte …
Es existierte nichts mehr außer nur ich selbst auf dieser Welt, mit meiner dunkelgrünen Farbe – ich, das seelenlose Auge, das tote, das ich mein eigenes Leben lebte, mein hypothetisches Leben, wohingegen das andere Auge, das heile, das lebendige, in seiner tatsächlichen Blindheit, als es noch am Leben war, es nicht fertiggebracht hatte zu lieben und zu verzeihen …
Diese Erzählung Το γυαλένιο μάτι von Napoléon Lapathiótis (1888-1944) wurde ursprünglich in der Zeitschrift Μπουκέτο, T. 9, Nr. 434 (1932), S. 873-874 veröffentlicht und erscheint hier erstmals auf deutsch.
Weitere Erzählungen von Lapathiotis in deutscher Sprache finden sich hier:
Lapathiotis, Napoleon: Erzählungen 1924-1933 / herausgegeben und übersetzt von Markus List. - 1. Auflage. - Hamburg : Edition Kentavros, 2023. - 132 Seiten : Illustrationen
ISBN 978-3-9824852-4-9
Bestellungen sind möglich über die Verlagsseite http://www.edition-kentavros.eu/24.html