Die griechische Schriftstellerin Galátia Kazantzáki (griechisch Γαλάτεια Καζαντζάκη) wurde am 8. März 1881 in Iráklion geboren. Ihre Geschwister waren die Schriftstellerin Elli Alexíou, der Dichter und Philologe Leftéris Alexíou und Radámanthis Alexíou. Galátia Kazantzáki lernte 1901 Níkos Kazantzákis kennen und heiratete ihn im Oktober 1911 in Iráklion. Die Ehe wurde 1926 geschieden. 1933 heiratete Galátia Kazantzáki den Dichter und Literaturkritiker Márkos Avgéris, behielt aber ihren Nachnamen bei. Galátia Kazantzáki starb nach einem Autounfall am 17. November 1962 in Athen.
Galatía Kazantzáki schrieb Romane (z.B. Γυναίκες, Άνθρωποι και υπεράνθρωποι), Erzählungen (11 π.μ. - 1 μ.μ., Κρίσιμες στιγμές u.a.), Schriften zum Theater (Με κάθε θυσία, Ενώ το πλοίο ταξιδεύει), Gedichte und Kinderbücher (Μια μικρή ηρωίδα, Οι τρεις φίλοι) sowie Schullesebücher. Werke von ihr in deutscher Sprache konnte ich bisher keine ermitteln.
Die folgende Erzählung „Der Tod [Ο θάνατος]“ erschien in der Zeitschrift Καινούργια ζωή, Jg. 1 (1928), Nr. 2, S. 34-36 und wurde von Markus List ins Deutsche übersetzt.
Jener Tag war ein Morgen im April, der Garten leuchtete unter dem blauen Himmel. Die ganz aufgegangenen Rosen dufteten. Das von der Nacht hinterlassene Wasser füllte die randvolle Zisterne und begoss das Schilf und den Farn, der rund um den oberen Rand herum gewachsen war. Die Tauben kamen zu den Platten herab, dorthin wo wir saßen. Die Schwalben, die der Frühling zurückgebracht hatte, flogen von ihren Nestern weg und wieder hin, die Vögel zwitscherten in den Bäumen, und mein kleiner Bruder spielte. Ein Mädchen sang, und wir sahen sie hinter ihrem Fenster, wo sie bei ihrer Arbeit mal auftauchte, mal verschwand, mit ihrem weißen Kopftuch und den über den Ellbogen aufgekrempelten Ärmeln.
Die Kinder der benachbarten Schule lärmten wie ein Bienenschwarm, und ich spürte eine fröhliche Leichtigkeit … als ob ich eins geworden wäre, so schien es mir, mit all jenem, was mich umgab. Ich spürte, ich war Wasser, Vogel, Himmel, und ich war sogar im Lied des jungen Mädchens, im Lärm der Kinder und im Spiel meines Bruders.
Dieses seltsame Gefühl gab mir viel Freude. Nicht die Freude, die aus einem herausbricht, sondern jene, die stumm ist und uns nachdenklich macht. Meine Mutter und ich arbeiteten in der Weinlaube. Mit dem Korb neben sich besserte sie ein Kleidungsstück meines Bruders aus und bemühte sich, dass die Ausbesserung nicht sichtbar war, weil das Kleidungsstück nicht nur zuhause getragen würde. Wir saßen seit einiger Zeit schweigend da. Das Essen, das meine Mutter selbst vorbereitet hatte, war auf dem Herd. Ab und zu stand sie auf und sah danach oder sie schickte mich hin. Sie trug ein leichtes rosafarbenes Hauskleid und hatte auf ihrem Kopf ein weißes Kopftuch mit Spitzen, das ihr ganzes Haar verbarg und nur ihr Gesicht sehen ließ. Wie immer glänzte es mit seiner gewohnten wächsernen Reinheit und wie immer bewunderte ich diese Schönheit, die so erfrischend erhalten war.
Plötzlich rief meine Mutter meinem Bruder streng zu, er solle brav sitzenbleiben.
„Bleibe einfach mal ruhig sitzen … nimm dir besser einmal dein Buch vor … diese Kleidungsstücke hast du schon ruiniert … Am Mittag werde ich Vater erzählen, dass du das Buch nicht angeschaut hast … Keine Sorge, du wirst sehen, was du erleben wirst.“ Ich folgte ihrem Beispiel und rief meinem Bruder zu, er solle zum Lernen kommen, doch da er nicht gehorchte, schwiegen wir wieder.
„Wie seltsam sind manchmal die Träume, die man hat ...“, sagte nach einer Weile meine Mutter. „Rate mal, welchen Traum ich heute Nacht hatte ...“
„Welchen, Mutter?“
„Den mit Petros Zachos.“
Petros Zachos hatte, als er jung war, um ihre Hand angehalten; als sie ihm die Ehe verweigert hatten, hatte er eine andere geheiratet und war nun schon seit Jahren tot.
„Und weißt du was?“ fuhr meine Mutter fort. „Als ob er hierher gekommen wäre und zu mir gesagt hätte: Bereite dich vor, die Stunde ist gekommen, dass ich dich hole. Und ich habe ihm erzählt, dass ich jetzt verheiratet bin, dass ich Kinder habe, die ich nicht allein lasse … doch er wollte mich unbedingt holen ...“
„Und danach?“
„Ach, nichts … Was für ein Mysterium … ein Mensch, an den ich sonst nie denke ...“
Währenddessen steckte sie die Nadel in das Kleidungsstück, legte es auf den Stuhl und stand auf, um wieder in der Küche nach dem Essen zu sehen. Nach einigen Minuten kam sie zurück. Sie nahm ihre Näharbeit wieder auf und nähte. So nähte auch ich neben ihr, einige Zeit verging.
Doch erneut sah ich, wie sie ihre Näharbeit sein ließ und nochmals aufstand.
Dieses Mal ging sie nicht in die Küche. Sie ging zu einem Blumentopf, bückte sich hinab zur Pflanze und begann herumzuwühlen. Sie richtete die Erde um die Wurzel herum, warf die Steinchen weg, die sie fand, nachdem sie sie mit der Hand gesiebt hatte, entfernte die trockenen Zweige … und wie sie so gebeugt dastand, hörte ich sie plötzlich sagen:
„Mir ist schwindlig, oh je! Mir ist schwindlig“ und sie hob ihre Hand an ihr rechtes Ohr und bedeckte es mit der offenen Handfläche. Ich blieb an meinem Platz sitzen, ich hörte nur mit meiner Arbeit auf und sah sie beunruhigt an.
„Mutter, was hast du? ...“
„Mir ist schwindlig“, wiederholte sie leise und streckte ihren Arm aus, als ob sie sich abstützen wollte. Da warf ich die Handarbeit weg und rannte zu ihr, ich nahm sie in die Arme und führte sie zum Stuhl.
„Takis“, rief ich gleichzeitig, „Wasser, bring schnell Wasser … hier mit der Büchse, von der Zisterne“. Bei meinem Ruf war der Junge etwas durcheinander, als er sah, wie ich unsere Mutter so führte, und wusste nicht, wohin er gehen sollte. Beim Weitergehen spürte ich, wie ihr Körper schwerer wurde und wie sie ihre Beine schleifte. Doch ich schaffte es, sie zum Stuhl zu bringen. Ich besprengte ihr Gesicht mit Wasser, gab ihr zu trinken und rieb ihr am ganzen Leib zitternd die Hände. Sie saß zusammengekrümmt auf dem Stuhl und sah schweigend zu, wie ich mich bemühte, sie wieder zu sich zu bringen … Sie war blass und die Wassertropfen bedeckten ihr Gesicht.
„Mutter, was hast du? Was hast du, Mutter?“ rief ich pausenlos und mein schneller Herzschlag machte mir weiche Knie.
„Du hast nichts – du hast nichts … Lächle mir zu, Mutter … sag auch du, dass du nichts hast“, bat ich sie.
„Ja … ich habe ...“, und ich sah, wie ihr Blick einen verlorenen Ausdruck annahm, abwesend wurde und in einer anderen Welt versank, dass sie mich nicht mehr sah.
Takis rannte überall herum, um Hilfe zu holen, und ich machte mich daran, sie ins Haus zu bringen, um sie auf das Sofa zu legen. Sie war jetzt schwer, sehr schwer und ich konnte sie nur mühsam hineinbringen.
„Komm, Mutter … etwas Zuversicht … Sieh, wir sind gleich da ...“
Und sie bemühte sich zu gehen, so gut sie konnte …
„Mein Bein und meine Hand sind eingeschlafen ...“
„Das ist nichts … gar nichts … du hast gar nichts.“
Ich legte sie hin und beugte mich über sie … Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen und sie versuchte, meine Stirn zu streicheln. Doch es ging nicht.
Ihr Blick blieb auf mich gerichtet. Sie schaute mir direkt in die Augen, als wollte sie mir zu verstehen geben, dass sie nicht reden konnte.
„Was möchtest du, Mutter?“
„Die Kinder, die Kinder ...“, begann sie zu stammeln … Ich konnte nicht mehr an mich halten. Meine Beine gaben nach, in meinen Ohren rauschte es, mein Kopf wurde leer … leer.
„Mutter! Mutter! Sprich mit mir ...“
Ihre Augen richteten sich wieder auf mich – ihre Hand bewegte sich, um mich zu streicheln – und sie sagte mit einem Schmerz, den ich niemals vergessen werde:
„Hm … Wie bist du blass geworden … sieh doch, sieh! Wieso bist du so geworden … warum … warum … und ...“ Die Worte waren nicht zu verstehen, weil sich die Zunge verhedderte.
„Mutter!“ rief ich … Nichts, keine Antwort, nur ein Röcheln. Es kam der Arzt, es kamen viele Ärzte und machten was sie wußten, und es kam der Vater und ihre Geschwister und unsere Verwandten, unsere Freunde und unsere Kinder von der Schule …
„Sie soll in ihr Bett gebracht werden“, sagten die Ärzte. Während wir sie transportierten und ich nahe bei ihr war und sie umarmte, drückte sie mir mit ihrer linken Hand, denn die rechte war vollkommen gelähmt, zum letzten Mal meine Hand …
Es vergingen noch 36 Stunden, bis meine Mutter starb. In dieser ganzen Zeit sah ich sie nicht. Ich wollte sie auf keinen Fall sehen. Mir schien es, dass sie schon gestorben war, dass jede Bindung zu uns abgebrochen war. Der Körper, der mit den veränderten Gesichtszügen dalag, gehörte nicht mehr meiner Mutter, die am letzten Morgen zusammen mit mir in der Weinlaube gesessen hatte. Nur eine außergewöhnliche Trauer befiel mein Herz wie Blei, da ich das Kleidungsstück meines Bruders halb ausgebessert mit der Nadel von ihrer Hand hineingesteckt dort wusste, wo sie es gelassen hatte, der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, unverändert am gleichen Platz – ihre Kleider, alles was sie verwendet hatte, dort, so wie sie selbst zurück gelassen hatte …
Und ich wollte, dass alles umgestellt, alles verändert würde, damit das unerträgliche Martyrium aufhörte, darüber nachzudenken, dass sie, die alles dort hingestellt hatte, für immer gegangen war! So begann ich, das Werk unserer endgültigen Trennung von unserer Mutter durchzuführen. Ich hängte in den Schränken ihre Kleider ab … ich stellte die Sachen um, die sie aufgestellt hatte … ich nahm den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte und brachte ihn hinein und stellte ihn zwischen die anderen … Mein Gott, was für schreckliche Stunden, wie vergisst man diese … und wie schnell vergisst man sie!
Während der Dauer ihres Todeskampfes weinte ich kein einziges Mal. Zu einem Knäuel zusammengekauert, unbeweglich, wie in der Tiefe, hielt ich nur meine Ohren zu, um nicht ihr Röcheln zu hören, das bis in die Ecke reichte, in die ich mich verkrochen hatte! Erst als sie ihr ihr violettes Samtkleid angezogen hatten und ich ihre Gestalt schön im ruhigen Schlaf sah, der ihr die Augen geschlossen hatte, fiel ein Gewicht von meiner Brust und meine Tränen begannen reichlich zu fließen. Eine Liebe, die ich noch nie gefühlt hatte, ergriff mich, und ich wich nicht mehr von ihrer Seite. Ich gab nicht Schreie von mir wie die anderen um mich herum. Ich fühlte nur die Notwendigkeit, mit ihr zu sprechen … nicht wie zu einer Verstorbenen ... wie zu einer geliebten Person, die vorhat, uns zu verlassen …
Draußen hatte sich der Morgen wieder in seiner ganzen aprilhaften Schönheit ausgebreitet.
Alles war gleich wie gestern, nur spürte ich nicht, dass ich mit allem eins war.
Als die Beerdigung vorbei und alles zu Ende war, nahm das Leben wieder seinen regelmäßigen Lauf, den der Tod für einen Augenblick aus der Ordnung gebracht hatte.
Und eines Morgens, nach einigen Tagen, arbeitete ich wieder in der Weinlaube. Die Tauben kamen zu den Platten des Innenhofs herunter, die Vögel zwitscherten, die Kinder lärmten in der benachbarten Schule, das Mädchen gegenüber sang, und ich spürte eine Leichtigkeit, als ob ich mit all diesen fröhlichen Dingen um mich herum eins geworden wäre.