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Ilias Venesis - Sommer, im Osten von Samos

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2022-10-02 2022-10-02 02.10.2022
Ilias Venezis 0002
Ilias Venezis

Der griechische Schriftsteller Ilias Venesis (Ηλίας Βενέζης, bürgerlicher Name Ilias Mellos) wurde am 4. März 1904 in Aivali in Kleinasien geboren, wo er auch seine Kinderjahre verbrachte. Während der Jahre 1914-1919 ließ sich seine Mutter mit ihm und seinen Geschwistern in Mytilini nieder. Während der kleinasiatischen Katastrophe 1922 verließ seine Familie Kleinasien endgültig, doch Ilias Venesis gelang es nicht, an Bord des rettenden Schiffes zu gelangen. Er wurde von den Türken gefangengenommen und zusammen mit 3000 Ayvalioten für 14 Monate in die Arbeitsbataillone geschickt. Seine Erfahrungen dort schildert er in seinem ersten Roman „Nummer 31328“. 1923 kam er frei und kehrte nach Mytilini zurück. Von 1932 an lebte er in Athen.
1939 erhielt Venesis für seinen Roman „Friede in attischer Bucht“ den Staatlichen Preis für Prosa (gemeinsam mit Stratis Myrivilis). Während der deutschen Besatzung wurde er mit der Beschuldigung verhaftet, er habe bei einer Versammlung zum Jahrestag des 28. Oktobers über Freiheit gesprochen. Er wurde im Block C des Averoff-Gefängnisses eingesperrt. Sein Theaterstück „Block C“ wurde erstmals am 5. Dezember 1945 aufgeführt.
1957 wurde Venesis als Mitglied in die Akademie von Athen gewählt. Er starb am 3. August 1973 in Athen. Sein Grab befindet sich in Mithymna (Molyvos) auf Lesbos, seiner kleinasiatischen Heimat gegenüber. Seinem Wunsch entsprechend bekam er dort ein anonymes Grab, mit der einzigen Inschrift ΓΑΛΗΝΗ [Ruhe].

Auswahl seiner ins Deutsche übersetzten Werke:
Äolische Erde: Roman. - Wiesbaden : Insel-Verlag, 1949
Friede in attischer Buch: Roman. - Hamburg : Wegner, 1963
Nummer 31328 : Leidensweg in Anatolien. - Mainz: von Zabern, 1969
Die Boten der Versöhnung: Erzählungen aus Griechenland. - Heidelberg: Rothe, 1958

Die folgende Erzählung „Sommer, im Osten von Samos“ ist der Zeitschrift „Ελληνικά φύλλα“, Πανηγυρικόν τεύχος 1936 entnommen und wurde von Markus List ins Deutsche übersetzt.
Ελληνικά φύλλα 1936:
https://lekythos.library.ucy.ac.cy/handle/10797/22376

Ilias Venezis 0001
Ilias Venezis

Hier, im Osten von Samos, ist das Meer nie ruhig. Der Meltemi beginnt sehr früh. Nur wenn es Abend wird, hört der Wind auf, und dann tauchen im Hintergrund des offenen Meers im klaren Abendlicht eine nach der anderen der fernen Dodekanesinseln auf: Kos, Kalymnos. Sie bleiben solange wie der Abend fortschreitet und kehren später wieder dorthin zurück, wo sie hergekommen sind, ins unendliche Meer.
Doch am gegenüberliegenden Berg im Osten, dem Mykali, sind das Licht und die Bewegung und die Farben nicht so vergänglich wie auf den fernen Inseln des Dodekanes. Wenn die Sonne hinter den Bergen von Samos verschwindet, dauert es noch lange, bis es anfängt, dunkel zu werden. In dieser ganzen Zeit ist der Mykali vom Licht beschienen: das gleiche spärliche und sich bewegende Licht wie beim Ymittos, ein klein wenig verschwommener. Es bleibt lange genug, bis nach und nach die Schatten hochzusteigen beginnen. Sie steigen vom Fuß des Berges aus dem Meer auf, langsam und feierlich, bis sie ihn mit ihrem Schweigen vollkommen bedecken.
Oberhalb eines Fischerdorfs, Tigani, liegt auf einem nahegelegenen Hügel, der nur aus Fels zu bestehen scheint, ein Kirchlein. Dieser Hügel ist eine riesige Höhle. Wenn man hineingeht, kann man bis zu einer bestimmten Stelle vorankommen. Von dort aus weiterzugehen ist unmöglich. Der Wind und der Modergeruch sind unerträglich. Dort in der Höhle, in rund hundert Meter Tiefe, ist die Gottheit in den Felsen gehauen. In den vergangenen Jahren hat die Feuchtigkeit dieses Relief aus frühchristlichen Jahren zerfressen, nur seine Spuren sind erhalten. Dort daneben liegt ein Bassin, in dem sich das Wasser sammelt, das von den Felsgewölben Tropfen um Tropfen herunterfällt. Bevor die Fischer eine Schiffsreise machen, kommen sie hierher, um von diesem geweihten Wasser zu trinken. Und wenn sie draußen auf dem Meer sind und die Winde stürmisch blasen, kommen ihre Frauen und ihre Kinder und beten, Gott möge sie beschützen.

In einer kleinen Hütte, dort neben dem Kirchlein. Zwei oder drei Menschen stehen über der Sterbenden. Sie hat ein sanft gealtertes Gesicht, das endlose Tage, ganze neunzig Jahre lang, gesehen hat, wie die Sonne hinter dem Mykali aufgegangen ist und wieder untergegangen. Seit einer Woche schon wartet sie darauf, die ewige Ruhe zu finden. Als sie merkte, dass sich ihr Zustand verschlechterte, legte sie sich hin und begann, eines nach dem anderen beim Namen zu nennen: die Kinder, die sie großgezogen hatte, die Enkelkinder, deren Kinder. Anschließend segnete sie alle und bat um das Abendmahl. Als auch das vorbei war, verschränkte sie ihre Hände und begann zu warten.
Um sie herum stehen einige ihrer Enkel. Von ihren Kindern lebt nur noch ein Sohn. Er war mit dem Kaiki unterwegs. Sie ließen ihn rufen. Eben war er eingetroffen.
„Was ist los, Mama?“ fragt er sie.
„Ach mein Sohn, meine Stunde ist gekommen“, murmelt sie ruhig. „Es sieht so aus, dass ich jetzt gehen werde …“
Er streichelt ihre Hand.
„Ach, das ist nichts“, sagt er zu ihr, um ihr Mut zu geben. „Du wirst sehen, dass das vorbei geht.“
Einige Zeit vergeht, ohne dass sie etwas sagt. Doch dann, als ob sie sich erst jetzt daran erinnert, ihm zu antworten, sagt sie:
„Besser, mein Junge, wenn es nicht mehr lang dauert. Ich bin müde.“
Außerhalb des kleinen Fensters, tief unten, tost das Meer. Nichts anderes hört man bis hier oben, kein Geräusch, nur sein tiefes Getöse. Endlose Tage und Nächte, vom Kleinkind an ihr ganzes Leben lang, hatte sie sich daran gewöhnt, dieses Getöse zu hören. Zu hören und zu schweigen, so wie vor den Ikonen. Dort draußen auf dem Meer, das wußte sie, kämpfte ihr Vater. Als sie später erwachsen und Frau geworden war und geheiratet hatte, änderte sich nichts. Nur dass sie statt auf ihren Vater auf ihren Mann warten musste. Das Meer rauschte wie immer und sie wusste nichts anderes, als ihre Arme aus Furcht vor ihm zu kreuzen und zu beten. Bis eines Tages ihr Mann nicht zurückkam. Sie war damals dreißig Jahre alt. Sie begann, selbst hart zu arbeiten, um ihre Kinder großzuziehen. Im Sommer bei der Ernte und der Weinlese, im Winter bei der Olivenernte. Für wenige Jahre hatte sich das Rauschen des Meeres von ihrem Leben entfernt, hatte andere Gestalt angenommen. Dieses Rauschen war verbunden mit den Erinnerungen, mit ihren Kindheitsjahren, und behielt nun stiller und ruhiger den geheimen Reiz des Traumes, des Märchens, das nicht aufhörte. Sie musste das Meer jetzt nicht fürchten, so direkt, so körperlich, deshalb spürte sie es tiefer: mit der einfachen Beziehung der bescheidenen Menschen, die sich mit den Dingen verbinden, mit dem Boden der Erde, mit dem gesegneten Holz, das das Feuer nährt, mit dem Wasser, das die Wolken bringen.
So vergingen die Jahre. Bis ihre Kinder groß wurden. Wie ihr Vater und wie ihre Großväter wurden auch sie Seeleute, und es begannen wieder die weiten Reisen und die dunklen Nächte. In der kleinen Hütte bekam das Rauschen des Meeres wieder seine alte und bekannte Geltung: es drängte sich zwischen die Wände, zwischen die verrußten Balken der Decke, es füllte alles mit seiner Gegenwart. Und so kamen wieder endlose Tage und Nächte.

Wie weit weg ist das alles jetzt. In der kleinen Hütte, wo der Tod auf diesen gealterten Körper, auf sein Blut wartet, werden in einem strengen Schweigen alle Knochen ruhig. Sie werden ruhig, damit dieser heilige Funke so lang wie möglich leuchten kann: die Erinnerung. Damit zum letzten Mal alles was passiert ist, zurückkehrt, gemeinsam gegenwärtig ist, die Trauer und die Freude, die diesem Körper so zugesetzt haben, da es jetzt, wo sie mit ihm zusammen ist, endgültig zu Ende geht. Sie erinnert sich deutlich daran, dass es einmal einen jungen Mann gab. Tagsüber spielten sie zusammen am Strand und holten Seeigel aus dem Meer. Später, als sie etwas älter waren, hat er sie, daran erinnert sie sich, so sonderbar angeschaut. So ganz anders. Danach ging er fort als Taucher, auf die Schwammfischerboote, und wurde nicht mehr gesehen.
Erst jetzt, nach so vielen, so vielen unzähligen Jahren, erst jetzt erinnert sie sich an diesen sonderbaren Blick. Er passt auf sie auf. Er ist dort, hinter dem Fensterrahmen, dort unten, wo das Meerwasser rauscht. Dort ist er. Sie erinnert sich jetzt sogar an seinen Namen.
„Dimitri …“, flüstert sie leise. „Dimitri“, sagt sie nochmals, „was ist aus dir geworden?“
Sonst nichts. Der klare Blick erlischt langsam im Abendlicht. Er erlischt. Und nichts anderes wird seinen Platz mehr einnehmen. Es gibt nichts. Da soll dieser heilige Funke der Erinnerung glänzen wie er will. Außer diesem vergänglichen Blick hat ihr ganzes Leben lang nichts ihr Herz berührt. Nichts. Sie hatte sich dem Schicksal der kleinen Leute ergeben, die wissen, dass die Gefühle – genau wie Träume – schnell vergehen bei schwer geprüften Menschen. Sie hatte sich mit ihrem Mann verbunden wie das Tier mit seinem Herrn. Um ihm zu dienen, um seine Kleider zu nähen, um monatelang auf seine Rückkehr vom Meer zu warten.
Als schon lange Zeit vergangen war seit seinem Tod, gingen eines Tages plötzlich fremde Menschen an ihrem kleinen Hafen an Land. Sie waren mit ihrem weißen Schiff von sehr weit hergekommen, hatten blonde Haare, sprachen eine unbekannte Sprache und waren vor dem schlechten Wetter geflohen. Sie blieben zwei Tage an ihrem Ort. Am Nachmittag stiegen sie auf den Felsen hoch, um das Relief in der Höhle anzusehen. Sie hatte sie hineingeführt: Es war ein junger Mann und ein Mädchen, etwa zwanzig Jahre alt. Sie hielten alle drei eine Fackel in der Hand und gingen in der Höhle vorwärts. Ihre Schritte waren auf den nassen Platten kaum zu hören, und in der tiefen Stille hörte man das Wasser Tropfen um Tropfen vom Höhlengewölbe in die Lachen fallen, die hier und da entstanden waren. Als sie beim Relief der Gottheit angekommen waren, war sie zur Seite getreten, damit die jungen Leute freie Sicht hatten. Sie hatten ihre Fackeln irgendwo dort abgesetzt, und sie verbreiteten ein seltsames Licht. Es herrschte eine tiefe Stille, Todesstille. Die jungen Leute tasteten schweigend mit den Händen das Relief ab. Da beugte sie sich nieder und schöpfte mit dem kleinen Schälchen von dem geweihten Wasser. Sie bekreuzigt sich und trinkt. Danach wendet sie sich zu dem blonden Mädchen und sagt feierlich zu ihm:
„Bist du gläubig?“
Das Mädchen verstand das nicht. So hatte sie sich selbst dann drei Mal bekreuzigt. Und nochmals zu dem Mädchen gesagt:
„Bist du gläubig?“
Das Mädchen versteht. Es bekreuzigt sich ebenfalls. Drei Mal. Erst dann gibt sie ihm das Schälchen. Das Mädchen hebt es schweigend an seine Lippen. Anschließend gibt es das Schälchen ihrem Begleiter. Auch er hebt es an seine Lippen. Das Mädchen schaut ihm im Licht der Fackeln in die Augen. Er trinkt. Danach richtet auch er seine Augen auf das Mädchen. Einen langen Augenblick. So schauen sich beide in die Augen. Ganz tief. Und da sah sie blitzartig im Blick der jungen Leute, die sich ganz gewiss liebten, ihre ganze verlorene Jugend, hörte diese seltsame Musik, die sie niemals gehört hatte, so wie sie sich blind dem Schicksal der rechtlosen Menschen ergeben hatte.
An jenem Abend, als die jungen Leute gegangen waren, zog sie sich früh in ihre Hütte zurück, einsam und allein, und weinte leise die ganze Nacht.

Wie weit ist das jetzt alles weg … Doch alles ist wieder gekommen, jetzt, wo alles zu Ende geht.
Draußen nimmt die Dunkelheit zu. Die Farben des Mykali beginnen zu verblassen. Die Schatten steigen hoch. Und die Stunde kommt ständig näher.
„Dimitri …“, ruft sie ihn nochmals leise aus der Tiefe der Jahre. „Was ist aus dir geworden?“
Nichts. Nur das Meer da unten, das sich bricht. In ihrem Versinken ist das einzige, was sie noch hört, das Rauschen des Meeres. Das einzige. Das Allersicherste. Bis sich auch dieses Geräusch allmählich entfernt.
„Es hat aufgehört …“, sagt sie schließlich leise.
Danach kam die letzte Agonie, sanft auch diese, so wie ihr Leben.