Die Berliner Künstlerin, Fotografin und Schriftstellerin Karsta Lipp hat einen beeindruckenden Bildband über eine Insel vorgelegt, die nur wenigen Griechenlandtouristen bekannt sein dürfte: Anafi. So heißt dann auch das Buch, mit dem ergänzenden Untertitel: „Manchmal gehen wir auch zum Hafen“. Seit über zwölf Jahren zieht es Karsta Lipp immer wieder auf die winzige im Südosten der Ägäis gelegene kleine Kykladeninsel mit ihren nur wenigen hundert Einwohnern. Die Schwarz-Weiß-Fotografien Lipps sind wie ein intimer Blick in die Privatsphäre der liebenswerten Insulaner. Verträumte Landschaftsaufnahmen, die die karge schroffe Insel wie weichgezeichnet widerspiegeln, setzen sich im Kopf des Betrachters zu farbstarken Bildern zusammen. Der tiefblaue ägäische Himmel, das saftig-trockene Grün der Hügelketten, der orange-rote Sonnenaufgang. Der Leser des Buches taucht ein in das Hier und Jetzt Anafis, das mit seinen weiß getünchten Häusern zeitlos schön wirkt. Es ist die Kraft der Ruhe, die aus den Fotografien spricht und ebenso beruhigt wie anregt. Männer im Kafeneion, Frauen in geselliger Runde vor dem heimischen Herd, Kinder mit glückselig-strahlenden Augen.
Im Klappentext des Buches schreibt Karsta Lipp über eines ihrer Erlebnisse auf Anafi. Takis sagte zu ihr: „Ein Instrument zu lernen, braucht sehr viel Zeit und Geduld.“ Wo, wenn nicht hier auf Anafi, gibt es davon mehr als genug. Und Karsta Lipp lernte sodann das Tsouras-Spiel. Die Klänge des sechssaitigen Instruments, das der Bousouki ähnelt, begleiten uns gedanklich beim Betrachten der Fotografien von Seite 1 bis 120.
„Anafi“ hat keine Seitenzahlen. So wie die Zeit auf der Insel keine wesentliche Rolle zu spielen scheint. Ich habe daher gezählt und gemerkt, dass die bleibenden Eindrücke von den malerischen Fotografien Lipps sehr viel mehr beinhalten als Bilder und Nummern. Das Buch ist wie ein Blick ins Leben der alten Anafioten. Im Laden von Takis wird wild getanzt, auf den Tischen stehen kleine runde und ovale Tellerchen mit weißen Riesenbohnen in saftig-roter Tomatensoße mit knallorangen Karottenscheiben und kleinen goldgelb frittierten Ährenfischchen. Dazu Brot und Wein aus einer rötlich-blechernen Karaffe. Der Fischer ordnet in Seelenruhe sein gelbliches Fischernetz mit den kleinen roten Auftriebskugeln und vor der Kirche schält eine bekopftuchte Frau eine tiefreife Mandarine. Tiefenentspannt spaziert der Dorfpope einen Pfad zum tiefblauen Meer hinab und ein sehr gut genährter Fischer im „Doublestar“-T-Shirt hält einen silberglänzenden Thunfisch in die Sonne. Manchmal gehen auch sie zum Hafen. Und auf einem Tablett warten derweil drei tiefschwarze griechische Mokkas mit ihrem feinen, in regenbogenfarben schillernden Schaum darauf, getrunken zu werden.
„Ipomoni“, sagen die Griechen: Geduld. Diese sollte man sich auch nehmen, wenn man das Buch zur Hand nimmt. Wenn man dann etwa in der Mitte von „Anafi“ angelangt ist, trifft der Leser auf einen Text von Karsta Lipp über einen Dienstag auf der Insel, der in dem Buch „Griechische Einladung in die Ägäis“ erschienen ist. In ihrem eigenen Buch hat die Künstlerin ihn deutsch-griechisch abgedruckt. Er passt in beeindruckender Weise zu den Fotografien. Es ist keine Beschreibung eines Ortes oder eines Tages. Es ist ein Stück der Welt, des Lebens, das man beim Lesen miterleben darf. Geduld! Möchte man dem Leser zurufen. Ich habe mir gewünscht, niemals auf der letzten Seite des Buches anzukommen. Es ist wie der Wunsch nach dem unendlichen Leben. Vielleicht hat „Anafi“ gerade deshalb keine Seitenzahlen.
Karsta Lipp: Anafi, Bildband, Fotograf: Karsta Lipp, Format: 24 × 21 cm, 120 Seiten, Softcover mit Klappern, Fadenheftung, Verlag: Seltmann+Söhne Auflage 1: 15.12.2015, Sprache: Deutsch – Griechisch, ISBN-13: 978-3-944721-55-2.