In einem nur wenige Tage nach dem Tod von Theo Angelopoulos veröffentlichten Beitrag in der britischen Filmzeitschrift Sight & Sound wird der griechische Filmregisseur wie folgt zitiert: „Der einzige Platz, an dem ich mich wirklich zuhause fühle, ist in einem Auto auf dem Beifahrersitz. Ich fahre nicht selbst, aber ich empfinde den vergleichsweise banalen Akt, durch Landschaften zu rollen, sehr bewegend. Die Art und Weise, wie ich während meiner verschiedenen Reisen die Welt betrachte, bestimmt wesentlich auch meine Art, Filme zu machen.“
Bisweilen sterben Künstler einen Tod, der durch ihre Arbeit heraufbeschworen wird. So geschehen am frühen Abend des 24. Januars dieses Jahres, als Theo Angelopoulos unweit von Piräus beim Überqueren einer Straße von einem Motorrad erfasst wurde und noch in derselben Nacht seinen schweren Verletzungen erlag. Nur wenige Tage zuvor hatte der 76-jährige Filmemacher mit den Dreharbeiten zum dritten Teil seiner Trilogie über die (Exil-)Geschichte Griechenlands begonnen. Nach „Trilogia I: Die Erde weint“ (2004) und „Trilogia II: „Der Staub der Zeit“ (2008) wollte sich Angelopoulos in „Das Andere Meer“ mit der dramatischen Finanzkrise in seinem Heimatland und deren verheerenden Auswirkungen auf das griechische Alltagsleben auseinandersetzen. Die Suche nach einer vermeintlich besseren Kameraeinstellung, zu deren Zweck er sich vom abgesicherten Filmset entfernte, sollte ihm schließlich zum Verhängnis werden und lieferte nicht nur dem „Anderen Meer“ einen vorzeitigen, denkbar tragischen Abspann, sondern bereitete auch einem der wichtigsten Repräsentanten und letzten Filmpoeten des europäischen Autorenkinos ein durch und durch prosaisches Ende. Hat man aber den Schock dieses so abstrus und banal anmutenden Todes im Abstand der Zeit einigermaßen überwunden, so drängt sich einem reflektierend der Eindruck auf, dass dieses plötzliche Lebensende für Angelopoulos und dessen filmisches Werk gar nicht einmal so unsymptomatisch war.
Wie oft haben sich die Figuren in seinen Filmen in einer einzigen langen Kameraeinstellung seitwärts fort- oder in einen anderen Blickwinkel, in eine andere Zeitperspektive oder gar in eine andere historische Epoche hineinbewegt? Wer Angelopoulos‘ bildgewaltiges Kino mag, der kommt nicht umhin, in ihm einen Poeten der Reise durch die Geschichte zu sehen, einer Reise, die zumeist in einer langen „Plansequenz“ eingefangen ist, im gleichzeitig anhaltenden Fortschreiten von Zeit, Raum, menschlicher Aktion und panoptischer Kamerafahrt.
In der Eröffnungsszene seines großartigen Films „Der Blick des Odysseus“ (1995) sehen wir einen Maler, der vor seiner mit einer Leinwand bespannten Staffelei am Kai sitzt. Er wartet darauf, ein blaues Segelboot zu malen, aber just in dem entscheidenden Moment, in welchem das Boot vorüberzieht, erleidet er einen Herzinfarkt und sackt tot in seinen Stuhl zusammen. Die Kamera schwenkt langsam weg, nimmt einen anderen Mann, den von Harvey Keitel verkörperten Protangonisten des Films in den Blick und begleitet ihn zurück an die Ausgangsposition. All dies ereignet sich in einer einzigen Kamerafahrt, und als Zuschauer vermuten wir, der Mann wird sich nun um den Leichnam des Malers kümmern – doch weit gefehlt: Der Schwenk setzt sich fort, und der Maler, sein Stuhl und seine Staffelei entrücken unserem Blick. In dieser Kontinuität der Bewegung ist die Zeit vergangen und das Mysterium begründet worden; nicht das Mysterium des „Wer hat es getan“, sondern das Mysteriums des Geschehens an sich, des „Was passiert hier eigentlich“ und der Art und Weise, wie das, was passiert, wahrgenommen wird.
Theo Angelopoulos blieb bis zuletzt konsequent seinem unverwechselbaren, am ehesten noch mit dem bereits vor 25 Jahren verstorbenen Andrej Tarkowski vergleichbaren Kino treu, einem Kino, das heutzutage freilich keine hohe Wertschätzung mehr genießt. Er hat dem Raum, der Distanz und der langsamen Bewegung stets den Vorzug gegeben gegenüber den Nahaufnahmen, den schnellen Schnitten und allen Regietricks, die dazu dienen, die Spannung und die Aufmerksamkeit der Zuschauer hochzuhalten. Sein Kino fußte auf der Überzeugung, dass man sich Filmen auf dieselbe Art und Weise anzunähern habe wie einem Ort, einer Person oder einem Problem: indem man es immer enger einkreist, darüber reflektiert und meditiert, vor allem sich seine Zeit nimmt. Seine Werke sollten nicht nur einen Denkprozess auslösen, sie waren selbst als vielschichtige, schwer zu dechiffrierende Denkprozesse komponiert. Diesem, der Langsamkeit verpflichteten Stil, hat sich Angelopoulos zeit seines Lebens verschrieben. Er bezeichnete seine Filme selbst als eine Art Dichtung: „Ich erwarte nicht von Dir, dass Du das verstehst, was ich mit meinen Filmen meine. Ich erwarte von Dir, dass Du das verstehst, was Deine Seele aus diesen Filmen versteht. Es ist eben wie Dichtung“, sagte er.
Angelopoulos wurde 1935 in Athen geboren. Seine Kindheit und Jugend fielen mit dem Zweiten Weltkrieg, der Besatzung Griechenlands durch das nationalsozialistische Deutschland und dem griechischen Bürgerkrieg zusammen. Diese historischen Ereignisse haben ihn tief geprägt und sollten ebenso wie die Obristen-Diktatur zwischen 1967-1974 maßgeblich auch den Stoff für seine Filme liefern.
Nach einem nicht abgeschlossenen Jurastudium an der Athener Universität und seinem nachträglich absolvierten Militärdienst ging er 1961 nach Paris, um an der Sorbonne Philosophie zu studieren. Fasziniert vom französischen Kino der damaligen Zeit, insbesondere von den Filmen Jean Luc Godards, begann Angelopoulos zudem ein Studium am Institut des Hautes Études Cinématographiques, das er jedoch aufgrund seiner sehr eigentümlichen Vorstellungen von Filmästhetik schon bald wieder verlassen musste. 1964 kehrte er nach Griechenland zurück, wo er zunächst als Filmkritiker und Dozent arbeitete. Sein erster Kurzfilm, „Die Radiosendung“ entstand 1968, diesem folgte 1970 mit „Rekonstruktion“ sein erster langer Spielfilm. Der internationale Durchbruch erfolgte nur wenige Jahre später, als Angelopoulos sich in einer ersten umfangreichen Trilogie mit der jüngsten und schmerzhaften Geschichte seines Landes auseinandersetzte. Während der erste („Tage von 36“, 1972) und dritte Teil („Die Jäger“, 1977) am Strickmuster einer Kriminalgeschichte orientiert sind, begleitet der zweite Film der Trilogie, „Die Wanderschauspieler“ aus dem Jahre 1975, eine Theatergruppe auf ihrer reflektierenden Odyssee durch Griechenland und die jüngere griechische Geschichte. Für den vierstündigen Film ist Angelopoulos mit gerade einmal hundert Kameraeinstellungen ausgekommen – insofern stellt der Film geradezu ein Paradebeispiel für die langen, mit einer komplexen Choreographie ausgestatteten Plansequenzen dar, die das Kino von Angelopoulos seither prägten und seinen einzigartigen Stil begründeten. Dabei ging er sogar so weit, in dieselbe Kameraeinstellung beinahe unmerklich unterschiedliche Zeitsphären –Vergangenheit und Gegenwart – miteinander zu verflechten. „Die Wanderschauspieler“ bescherten Angelopoulos eine Vielzahl von Auszeichnungen, unter anderem auf den Filmfestivals von Cannes und Berlin. Der einflussreiche britische Filmkritiker David Thomson zählt „Die Wanderschauspieler“ zu den besten zehn Kinofilmen aller Zeiten. Doch auch für seine späteren Filme wurde Angelopoulos mit Preisen geradezu überhäuft. Für „Alexander der Große“ (1980) wurde Angelopoulos mit dem Goldenen, für „Landschaft im Nebel“ (1988) mit dem Silbernen Löwen der Filmfestspiele von Venedig ausgezeichnet. Der bereits eingangs erwähnte „Blick des Odysseus“ wurde auf dem Filmfestival von Cannes mit dem Großen Preis der Jury prämiert, für „Eine Ewigkeit und ein Tag“ (1998) wurde Angelopoulos schließlich die lang ersehnte Goldene Palme verliehen. Einer hohen internationalen Reputation erfreuen sich auch seine Filme „Reise nach Kythera“ (1984), „Der Bienenzüchter“ (1986) und „Der schwebende Schritt des Storchen“ (1991).
Angelopoulos war sicherlich kein einfacher Mensch. Entsprechend schwierig präsentierten sich auch die Charaktere in seinen Filmen. In der Regel waren es tragische Helden – Rückkehrer aus dem Exil, schaffensmüde Regisseure, dem Tod geweihte Schriftsteller. Um die Gunst des Publikums hat er nie gebuhlt: „Ich mache Filme für mich – nicht für die anderen“, sagte er. Der japanische Meisterregisseur Akira Kurosawa soll einmal über Angelopoulos gesagt haben: „Durch eine Linse schaut sich Angelopoulos im Stillschweigen die Welt an.“ Die Linse setzte in der überwiegenden Mehrheit seiner bildpoetischen Werke der herausragende griechische Kameramann Giorgos Arvanitis an, dem ebenso ein großes Verdienst an der künstlerischen Wirkung des Angelopoulos-Kinos zukommt wie der Komponistin Eleni Karaindrou, die viele seiner Filme musikalisch untermalt hat. Sowohl diesseits, mehr vielleicht aber noch jenseits der Grenzen Griechenlands galt Theodoros Angelopoulos als der „Blick Griechenlands“, dem es gelungen ist, die jüngere Geschichte des Landes in atemberaubenden Bildgedichten offenzulegen. Mit dem jähen Tod des Regisseurs im Januar dieses Jahres ist Griechenland und die Welt ein Stück blinder geworden….
Filmografie (Auswahl)
1968: I Ekpombí (dt. "Die Sendung"), Kurzfilm
1970: Rekonstruktion
1972: Tage von 36
1975: Die Wanderschauspieler
1977: Die Jäger
1980: Der große Alexander
1981: Ein Dorf, ein Bewohner, Kurzfilm
1982: Athen, Rückkehr auf die Akropolis
1984: Die Reise nach Kythira
1986: Der Bienenzüchter
1988: Landschaft im Nebel
1991: Der schwebende Schritt des Storches
1995: Der Blick des Odysseus
1998: Die Ewigkeit und ein Tag
2004: Die Erde weint
2008: The Dust of Time
2011: Mundo Invisível (Episode: Céu Inferior)
Auszeichnungen
1968: Kurzfilmpreis der griechischen Filmkritikervereinigung auf dem Filmfestivals von Thessaloniki für I Ekpombi
1970: Bester Kunstfilm und bester Nachwuchsregisseur des Filmfestivals von Thessaloniki sowie bester Film der griechischen Filmkritikervereinigung für Rekonstruktion
1971: FIPRESCI-Preis – Lobende Erwähnung der Filmfestspielen Berlin für Rekonstruktion
1972: Regiepreis des Filmfestivals von Thessaloniki für Tage von 36
1973: FIPRESCI-Preis der Filmfestspiele Berlin für Tage von 36
1975: Bester Film, Regie- und Drehbuchpreis des Filmfestivals von Thessaloniki für Die Wanderschauspieler
1975: Interfilm-Preis der Filmfestspiele Berlin für Die Wanderschauspieler
1975: FIPRESCI-Preis der Filmfestspiele von Cannes für Die Wanderschauspieler
1975: Sutherland Trophy des British Film Institute für Die Wanderschauspieler
1980: Bester Film des Filmfestivals von Thessaloniki sowie bester Film der griechischen Filmkritikervereinigung für Der große Alexander
1980: FIPRESCI-Preis der Filmfestspiele von Venedig für Der große Alexander
1980: Kinema-Jumpo-Preis für Die Wanderschauspieler (Bester fremdsprachiger Filmregisseur)
1984: Drehbuch- und FIPRESCI-Preis der Filmfestspiele von Cannes für Reise nach Kythera
1988: Silberner Löwe, Pasinetti-Preis, Sergio-Trasatti-Preis, OCIC-Preis, C.I.C.A.E.-Preis der Filmfestspiele von Venedig für Landschaft im Nebel
1989: Interfilm-Preis der Filmfestspiele Berlin für Landschaft im Nebel
1995: Großer Preis der Jury und FIPRESCI-Preis der Filmfestspiele von Cannes für Der Blick des Odysseus
1995: FIPRESCI-Preis des Europäischen Filmpreises für Der Blick des Odysseus
1996: Léon-Moussinac-Preis der französischen Filmkritikervereinigung für Der Blick des Odysseus (Bester ausländischer Film)
1996: Silbernes Band des Sindacato Nazionale Giornalisti Cinematografici Italiani für Der Blick des Odysseus (Bester ausländischer Regisseur, Europäisches Silbernes Band)
1997: Premio Sant Jordi für Der Blick des Odysseus (Bester ausländischer Film)
1997: Mainichi Eiga Concours für Der Blick des Odysseus (Bester fremdsprachiger Film)
1998: Goldene Palme und Preis der Ökumenischen Jury der Filmfestspiele von Cannes für Die Ewigkeit und ein Tag
1998: Bester Film, Regie- und Drehbuchpreis des Filmfestivals von Thessaloniki für Die Ewigkeit und ein Tag
1999: Silberner Condor der Argentinischen Filmkritikervereinigung für Der Blick des Odysseus (Bester ausländischer Film)
2003: Ehrenpreis des Copenhagen International Film Festival
2004: FIPRESCI-Preis des Europäischen Filmpreises für Die Erde weint
2004: Grand Prix Special des Amériques des World Film Festival
2005: Spezialpreis der Jury des Internationalen Fajr-Filmfestivals für Die Erde weint
2010: Preis für das Lebenswerk des Filmfestivals von Jerewan