„Alles fliesst.“ Mit diesen Worten hat Platon die Lehre von Heraklit (Herakleitos) kurz umschrieben. Die Doktrin des Philosophen von Ephesos über den Kreislauf des ewigen Werdens gilt auch für das philosophische Denken. Es gibt kein Ende der Philosophie. Die Entwicklung der Ideen geht weiter - in Griechenland, der „Wiege der Philosophie“, und in der Welt überhaupt. Das ist ein Gemeinplatz. Aber er muss in einer Zeit doch vermerkt werden, in der es vom „Ende der Geschichte“ und von anderen, nicht enden wollenden Enden wimmelt. So ist dieser Ausklang, dieser Epilog, zugleich auch ein Prolog. Es werden hier bestimmte Schlussfolgerungen skizziert, die auch Perspektiven eröffnen.
Es war von Griechenland als „Wiege der Philosophie“ die Rede. Doch es muss daran erinnert werden, dass dies cum grano salis aufzufassen ist. Zwar liegen die Fundamente des gesamten philosophischen Lehrgebäudes nicht nur Europas, sondern des Abendlandes überhaupt in hohem Ausmass im altgriechischen Denken. Das darf indes nicht vergessen lassen, dass das althellenische Denken wertvolle Impulse von anderen Kulturen empfing. Die altgriechische Philosophie war nicht „autark“. Nach langem Ringen und sicherlich nur in unzureichendem Ausmass erzielte sie jedoch einen wichtigen Neuansatz in der Verbindung von Philosophie und Demokratie.
Bei diesem Neuansatz spielte die anthropozentrische Sophistik eine eminente Rolle. Unter dem Gesichtspunkt eines die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellenden Humanismus, also eines Humanismus im wertenden Sinne des Wortes, ist z.B. die Lehre Antiphons für die politische Philosophie von grosser Bedeutung. Mit seiner Forderung nach der Gleichheit aller Menschen war Antiphon seiner Zeit voraus. Gewiss, der sophistische Anthropozentrismus wies nicht zu unterschätzende Unterschiede auf. Einige Sophisten vertraten undemokratische Ansichten. Es waren aber wiederum Sophisten, die gegen diese undemokratischen Thesen entschieden Stellung bezogen. Die Radikalität der Gleichheitsforderung der betreffenden Denker imponiert, unabhängig davon, ob und in welchem Ausmass diese Forderung auch die Form einer politischen Aktion angenommen hat. In diesem Buch, in dem weitgehend rechtsphilosophische Aspekte behandelt worden sind, wird immer wieder die Gerechtigkeitsfrage aufgeworfen. Gemeint ist dabei natürlich die Gerechtigkeit als Postulat der Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen. Es gibt aber auch eine Art Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit der Geschichte. Und letztere hat Männer wie Antiphon und Alkidamas ungerecht behandelt.
Im Zuge eines Pseudohumanismus diente hingegen, wie gezeigt, Platon in vielen Fällen als Kronzeuge für eine scharfe Abrechnung mit dem demokratischen Gedankengut. Platon wurde dabei oft weitgehend umfunktioniert. Aber seine Philosophie, wie auch diejenige des „Empirikers“ Aristoteles, enthält zweifellos nicht wenige Elemente, die mit der freiheitlichen Demokratie unvereinbar sind. Platons Gerechtigkeitslehre bildete einen grossartigen Versuch, den Relativismus aus einem Bereich zu entfernen, in dem er sich zu Hause zu fühlen pflegt. Der Versuch misslang, weil der Philosoph einerseits die rationale Betrachtungsweise mit der Mystik in zulässiger Weise vermengte, andererseits der Bedeutung der Gleichheit für die Erfassung der Gerechtigkeit verschlossen blieb. Aristoteles näherte sich der Gerechtigkeitsproblematik auf realistischere Weise. Aber auch er überwand nicht das Misstrauen Platons gegenüber der Demokratie, ganz davon zu schweigen, dass er die inhumane Institution der Sklaverei zu verteidigen versuchte.
In der hellenistischen Periode, die vom traditionellen „Humanismus“ (man beachte die Anführungszeichen!) lange Zeit stiefmütterlich behandelt wurde, konnten wichtige Fortschritte in der Richtung der Überwindung der „Polis-Mauern“ erzielt werden. Das Ideal der Gleichheit von Griechen und Barbaren, Freien und Sklaven, Reichen und Armen, Männern und Frauen, das Zenon von Kition in seiner Jugendschrift verkündete, verlor allerdings im Laufe der Zeit an Dynamik. Ohnehin war die zenonische politeía als eine Vereinigung der Weisen, nicht aller Bürger gedacht. Zenons Idealstaat war ein „entpolitisiertes Miteinander“. Entpolitisiert war grossenteils auch die Lehre Epikurs (láthe biósas). Die epikureische Humanität war eine solche der Alltagspraxis. Sie fand nicht auch im politisch-ideologischen Bereich Ausdruck. Die Forderung Epikurs, die Sklaven nicht zu bestrafen, setzte rechtslogisch die Bejahung der inhumanen Institution der Sklaverei voraus. Während der hellenistischen Periode reichte der Einfluss der griechischen Kultur bis Indien und Innerasien. Dank der Verbreitung der während des Hellenismus geprägten gemeinsamen Sprache, der sogenannten Koine, lebte hellenisches Gedankengut im frühen Christentum und noch in der Zeit der Byzantiner fort. Der Hellenismus bezeugt die Kontinuität der griechischen Sprache und somit auch diejenige der hellenischen Kultur. Gewiss, diese Kontinuität war voller Antinomien, Vermischungen und Zäsuren; doch ohne Erfassen der Kontinuität der Sprache lassen sich auch nicht die eklatanten Schwächen eines formalistischen und weltfremden „Humanismus“ überwinden. Gefordert ist eine „einheitliche und weitgespannte Hellenistik“ und das heisst eine Hellenistik mit betont diachronischer Dimension.
Die Geschichte des Byzantinischen Reiches war sicherlich weitgehend von Intoleranz, Erstarrung, Abglauben und Formalismus gekennzeichnet. Sie war jedoch keineswegs nur „eine monotone Reihe von Pfaffen-, Eunuchen- und Weiberintrigen, von Vergiftungen, Verschwörungen, allgemeiner Undankbarbeit und immerwährendem Brudermord“ (William E.H. Lecky). Es gab auch das „andere Byzanz“. Und dem verdanken wir nicht zuletzt die kontrapunktische, aber dennoch reelle „Ehe von Hellas und Christentum“. Es beeindruckt die Verknüpfung von Elementen der antiken Philosophie und der christlichen Lehre etwa bei Gregor von Nyssa. Was einen sozialpolitisch orientieren Humanismus anlangt, ist Johannes Chrysostomos zu erwähnen, bei dem der entsprechende ethische Tenor eine erstaunliche Radikalität erreicht, die an das die Bergpredigt in Praxis umwandelnde ursprüngliche Christentum anknüpft. Und nicht zu vergessen: es waren Spätbyzantiner, die der westlichen Renaissance, vor allem in Italien, grossen Auftrieb verliehen. Diese Renaissance stand allerdings vorwiegend im Zeichen des Platonismus und Aristotelismus; die anthropozentrische Sophistik und deren demokratisch gesinnte Vertreter blieben dabei unberücksichtigt.
Unter den Osmanen schwankte das griechische politische Denken zwischen östlicher Kirchentradition und westlicher Aufklärung. Hier ist Vorsicht geboten. Es darf weder der Begriff „religiöser Humanismus“ noch derjenige der „griechischen Aufklärung“ überspannt werden. Feine Differenzierungen von Zeit zu Zeit und Fall zu Fall tun not. Kyrillos L[o]ukaris war zwar ein bedeutender Patriarch; er betrachtete aber die Wissenschaft und die Philosophie mit unverhohlenem Misstrauen. Der Intellektuelle Dimitrios Katartzis wieder, der im Schrifftum oft als Aufklärer erwähnt wird, vermochte nicht, die engen soziopolitischen Grenzen des fanariotischen Milieus, in dem er lebte und wirkte, zu sprengen. Adamantios Korais war zwar ein Verfechter der rechtsstaatlichen freiheitlichen Demokratie, machte jedoch in seinen politischen Auffassungen nicht zu verkennende Wandlungen durch.
Der Sieg der hellenischen Freiheitskämpfer von 1821 war entgegen deren aufklärerisch-demokratischen Erwartungen in nationaler, politischer, sozioökonomischer und kultureller Hinsicht partiell, bedingt und problembeladen. Während der neugriechischen Periode macht sich im politischen Denken die Antinomie zwischen dem Megali Idea-Nationalismus einerseits und, vor allem seit 1922, dem doktrinären Marxismus andererseits bemerkbar. Das nationalistische Spektrum weist Unterschiede auf, wobei die Forderung nach nationaler Freiheit (eine Grundvoraussetzung für die Realisierung der Menschenrechte) nicht mit dem nationalistischen Expansionismus zu verwechseln ist. Der griechische Marxismus hat weitgehend zur Überwindung des teilweise mit irrationalen, mythischen Elementen verknüpften überspannten Nationalismus beigetragen. Ausserdem hat er das Augenmerk auf die sozioökonomischen Faktoren gelenkt, die früher von diesem oder jenem Denker nicht oder nicht gebührend gewürdigt worden waren. Er konnte aber in den meisten Fällen nicht zu einer Überwindung der Schwächen gelangen, die sich aus der Verknüpfung der Heilserwartung mit dem ökonomischen Determinismus ergeben. Dies nicht zuletzt aus dem Grunde, dass das normative Element (die ethische Bewertung des geschichtlichen Geschehens unter dem Gesichtspunkt des Sollens) verkannt oder bewusst abgelehnt wurde.
Nikos Kazantzakis erfasste die Bedeutung des Sollens, als er in seiner Jugendabhandlung über die Rechts- und Staatsphilosophie Friedrich Nietzsches von der „dualistischen Quelle der Gesetze“ sprach, nämlich von der Diskrepanz zwischen dem im Leben herrschenden Sozialdarwinismus (die Natur sei eine harte Stiefmutter für die Zarten und Schwachen) einerseits und dem Ideal der Liebe und der Brüderlichkeit andererseits. In seiner „Griechischen Passion“ bekannte sich Kazantzakis zu einer Sozialordnung, die an das ursprüngliche, kämpferische, mannhafte und opferwillige Christentum erinnert. Doch in anderen Schriften liess er sich von inhumanen Doktrinen beeinflussen, z.B. vom „Übermenschentum“ Nietzsches. Unter dem Gesichtspunkt eines diesen Namen verdienenden Humanismus ist nicht der Kazantzakis der nihilistisch angehauchten „Odyssia“ gewichtig, sondern derjenige der „Griechischen Passion“. Die Vision des Kazantzakis der „Griechischen Passion“ („Christus wird wiedergekreuzigt“) mag in unserer überkommerzialisierten Welt als „unrealistisch“ erscheinen. Angesichts des herrschenden Elends (man denke nur an die „Dritte Welt“!) bildet sie ein unverzichtbares Desideratum.
Im Gegensatz zu den griechischen Marxisten schenkten die hellenischen „Heidelberger“ der normativen Betrachtungsweise grosse Aufmerksamkeit. Sie standen dabei unter dem Einfluss Platons und Kants. Doch sie konnten nicht die Schwächen beseitigen, die sich vor allem aus der undemokratischen Struktur der platonischen Staatsauffassung ergeben. Sie warfen vor allem nicht die Frage auf, wer, mit welchem Recht und nach welchen Kriterien die Gliederung der Gesellschaft in die „Besten“ und die „Nichtbesten“ vorzunehmen habe. Ausserdem verhielten sie sich in der Praxis in manchem Fall nicht im Einklang mit ihrem ideologisch-politischen Credo. Der Rechtsphilosoph Konstantinos I. Despotopoulos hingegen bemühte sich auf dem Boden des Platonismus um eine sozialethische politische Praxis. Wie gesehen, war er in der Theorie mit den „Heidelbergern“ verbündet. Sein Herz schlug jedoch für die soziale Gerechtigkeit, an die auch jene Emigranten glaubten, die 1945 Griechenland verliessen und in Frankreich Karriere machten - eine Karriere freilich, die sie in manchem Fall zu einer Entfernung von ihrem Jugendradikalismus führte. Unter dem Gesichtspunkt der Antinomie zwischen Platonismus in der Theorie und Sozialethik in der Praxis ist der „Sonderfall“ Konstantinos I. Despotopoulos instruktiver als manche tiefschürfende politisch-philosophische Analyse.
Ich sprach von einem instruktiven Fall. Lernt man aus der Geschichte, insbesondere aus der Geistesgeschichte? Hegel schrieb, dass alle grossen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Und Marx bemerkte kritisch, der Verkünder der Identität von „Sein“ und „Denken“ habe vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Vor diesem Hintergrund sollten wir uns zumindest darum bemühen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Es liefe auf eine Tragödie hinaus, wenn man z.B. aus der Pervertierung der Philosophie in der Zeit des Nationalsozialismus nicht die notwendige Lehre zöge. Diese Pervertierung trug wesentlich zur heutigen Krise der humanistischen Studien bei. Martin Heidegger pflegte zwar im Zusammenhang mit dem Humanismus von einer Rückwendung zur griechischen Geschichte zu sprechen. Doch seine Philosophie, die merkwürdigerweise auch nicht wenige (ehemalige) Linksintellektuelle beeindruckte, bewegte sich „jenseits von Gut und Böse“ und war von der „Vita activa“ der unglücklichen Hannah Arendt weit entfernt.
Es geht hier nicht darum, sich mit jenen tautologischen Paradoxien Heideggers auseinanderzusetzen, die etwa den jüdischen Philosophen Jonas Cohn (1869-1947) irritierten. Es geht um die viel wichtigere Frage, ob eine gemäss der zutreffenden Diagnose Hannah Arendts zum „Tyrannischen neigende“ Philosophie die richtigen Perspektiven für eine menschlichere Menschheit bieten kann. Wer sich einem Humanismus ohne Anführungszeichen verpflichtet fühlt, muss diese Frage verneinen. Obschon oder gerade weil der Glaube an die dignitas humana wegen des Wiederaufflammens religiöser, nationalistischer oder sogar rassistischer Fanatismen bzw. wegen eines rücksichtslosen Ökonomismus erschüttert wird, gehört die Zukunft jenem lebendigen Humanismus, der die in diesem Buch hervorgehobene Quintessenz der altgriechischen Kultur ausmacht. Diese Quintessenz lässt sich im kategorischen Imperativ Kants oder aber im schlichten christlichen Gebot der Nächstenliebe ausdrücken. Und sie gilt jenseits metaphysischer Verflechtungen für alle Menschen: für Gläubige und Atheisten, für Christen und Nichtchristen, für „Orthodoxe“ und „Häretiker“.
Der Beitrag des international bekannten Gräzisten an den Universitäten Freiburg i.Ü. (1965-1995) und Zürich (1984-1992) stützt sich auf sein jüngstes, in unserer Zeitschrift angekündigtes Werk, das inzwischen erschienen ist: Pavlos Tzermias, Aspekte der griechischen Philosophie von der Antike bis heute, Francke Verlag Tübingen 2005, ISBN 3-7720-8111-8. Im Beitrag fasst Pavlos Tzermias die Ergebnisse seiner minutiösen und kritischen Erforschung politologischer, rechtsphilosophischer und rechtsgeschichtlicher Probleme in diachronischer Sicht zusammen.