Auf der griechischen Insel Keffalonia (Kefalonia) genießen Schlangen einen überaus guten Ruf. Sie gelten dort als Glücksbringer. Einmal im Jahr, um Maria Himmelfahrt, erhoffen sich die Christen im Dorf Arginia von kleinen Nattern Schutz und Segen.
Wenn sich an diesem Samstag in der kleinen griechisch-orthodoxen Kirche von Arginia die Gläubigen treffen, um das Fest Maria Himmelfahrt zu feiern, dann steht außer der verehrten Ikone der Gottesmutter ein kleines Tier im Mittelpunkt: die Schlange. Lebende Nattern kriechen um die vergoldeten Schnitzereien der Altarwand, ringeln sich auf Stuhllehnen und Säulen. Manche Gläubige halten ein Tier behutsam in der Hand. Anderen liegt es gleich einem Schmuckstück auf der Brust. Einige, wie der alte Gerasimos, tragen die Schlange sogar im Mund; der lange Körper des Kriechtiers windet sich um sein Gesicht und seinen Hals. Wahrlich keine Szenerie für Schlangenphobiker ...
Der uralte christliche Schlangenkult in dem kleinen Dorf auf der griechischen Insel Keffalonia gilt als der älteste und einzige dieser Art, der heute noch gepflegt wird. Nur in den itelienischen Abruzzen hat ein ähnliches Ritual Jahrhunderte überlebt. Einmal im Jahr findet dort in Cucullo eine Schlangenprozession statt.
Auf den ersten Blick kaum nachvollziehbar, dass Christen Schlangen verehren. Steht doch in der Bibel so gar nichts Gutes über die Spezies. Die Schlange trägt die Schuld an der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Namentlich in der katholischen Tradition symbolisiert sie das widergöttliche Prinzip, den Satan, die Versuchung, die Sünde. In der Antike war das freilich anders. Da galt die Schlange als Beschützerin des Hauses und als Seelentier. Sie verkörperte den Geist der Erde. Allein war sie ein Todeszeichen, doch gemeinsam mit dem Geist der Weiblichkeit verkörperte sie das Leben. So vermuten denn auch die Wissenschaftler, daß der Kult von Keffalonia auf ein frühchristliches, aus der Antike übernommenes Ritual zurückgeht. Für die orthodoxen Christen von Arginia ist die Schlange eine Glücksbringerin, die Urängste zu bannen vermag.
Alljährlich am 5. August, am Vorabend des Fests der Verklärung Christi, sammeln die kaum mehr als hundert Dorfbewohner hoch oben an der Südwestflanke des mächtigen Aionos-Berges an einem besonderen Platz am Ortsrand die „Schlangen der Muttergottes“ und bringen Sie dann in Glasbehältern in die Dorfkirche, wo sie sich bis zum 15. August (Maria Himmelfahrt) aufhalten. Der Volksglaube behauptet, daß sich vor Jahrhunderten die Nonnen eines von Seeräubern überfallenen Klosters in Schlangen verwandelten, die die Gegend vor den Eindringlingen retteten. Bis heute gilt deshalb, wo immer sie auftaucht, eine Schlange als gutes Omen und Garant gegen Schicksalsschläge aller Art. Wenn die Tiere die Insel meiden, droht nach Ansicht der Christen von Arginia großes Unheil. Die Alten erzählen, daß auch vor der Besetzung der Insel im Zweiten Weltkrieg und vor dem großen Erdbeben 1953 nirgendwo eine Schlange zu sehen war.
Noch vor einigen Jahren glaubten die Dorfbewohner, dass ihre Schlangen normalerweise gefährlich giftig sind. Nur in jenen Tagen, da sie sich in der Kirche aufhalten, sollen sie sich nach alter Überlieferung in harmlose Wesen verwandeln. Zoologen fanden aber heraus, daß es sich bei den „Schlangen der Muttergottes“ um oft bissige, jedoch für den Menschen ungefährliche europäische Katzennattern handelt. Diese Schlangenart sieht der Sandviper täuschend ähnlich, die ebenfalls auf der Insel verbreitet ist. Ein Vipernbiss ist lebensbedrohlich.
Schon am Abend vor dem Himmelfahrtstag drängeln sich die Menschen in der Wallfahrtskirche. In der Mitte des Raumes steht die Marienschlangen-Ikone (Panagia i Fidousa), umringelt von schwarzgefleckten Silberschlangen. Nach Gebet und Brotweihe werden Brotstücke und Basilikumsträußchen verteilt. Wenn dann alle Gläubigen die Ikone inbrünstig geküsst haben, feiern sie bis spät in die Nacht. Unmittelbar nach dem Festgottesdienst am 15. August kommen viele Familien, Touristen und Neugierige zur Dorfkirche, um die heiligen Tiere zu sehen. Jeder will sie berühren; sie werden herumgereicht, gestreichelt. Man läßt sich mit ihnen fotografieren oder sogar mit der Video-Kamera filmen.
Tags danach sind dann die Tiere wie weggehext aus Ort und Kirche. Der Alltag kehrt wieder ein, das Dorf des Schlangenkults versinkt in die gewohnte Bedeutungslosigkeit.