Dominikos Theotokopoulos gilt heute als einer der grössten Maler aller Zeiten. Trotzdem gibt es in bezug auf sein Leben und seinen künstlerischen Werdegang nicht wenige Unklarheiten. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass er, wie Nikos Kazantzakis (1883-1957) in einem Artikel im Eleftheroudakis-Lexikon und in seinem Spanien-Reisebuch bemerkt, nach seinem Tod (1614) sehr lange Zeit vergessen war. Als Geburtsdatum des grossen Künstlers wird meistens das Jahr 1541 angegeben. Dafür scheinen gewisse historische Quellen zu sprechen. Wo wurde er aber geboren? Im rund dreissig Kilometer östlich von Iraklio[n] liegenden Dorf Fodele? Oder im ehemaligen Candia, dem heutigen Iraklio[n]? Auch andere Orte Kretas erheben Anspruch, die Geburtsstätte El Grecos zu sein. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts gewinnt unter den Wissenschaftlern die These an Boden, dass Dominikos Theotokopoulos in Candia geboren wurde, also dort, wo im Altertum der Hafenort von Knossos lag und wo die Araber die Stadt Chandaka (Khandak) gründeten, die dann die Byzantiner übernahmen und die Venezianer zur Festung Candia ausbauten.
Während langer Zeit hatte man angenommen, dass Dominikos Theotokopoulos um das Jahr 1560 nach Venedig gegangen sei. Der griechische Gelehrte Konstantinos D. Mertzios aber entdeckte 1961 in den Archiven Venedigs eine im Juni 1566 in Candia verfasste notarielle Urkunde, welche die Unterschrift Theotokopoulos´ trägt, und zwar mit einem auf seine Berufsbezeichnung („Meister“ und „Maler“) hinweisenden Vermerk. Vgl. Pavlos Tzermias, Der junge El Greco, in: Pavlos Tzermias (Hrsg.), Griechisches Leben und Denken, Heft 4 (Juli/August/September 1963), S. 76-77. Die Entdeckung von Mertzios erregte grosses Aufsehen, denn sie spricht dafür, dass Theotokopoulos erst 1566 oder später nach Venedig zog. Nikolaos M. Panagiotakis (1935-1997), ein guter Kenner der kretischen Kultur der Zeit der Venezianerherrschaft, kam 1986 nach eingehenden Forschungen zum Ergebnis, dass Theotokopoulos schon 1563 in Chandaka als Kunstmaler tätig war. Aus jenem Jahr stammt unter anderen ein amtliches venezianisches Dokument, in dem Theotokopoulos als „Maestro Domenigo Theotocopoulo“ erwähnt wird. Vgl. Nikolaos M. Panagiotakis, Die kretische Periode des Lebens des Dominikos Theotokopoulos, Athen 1986 (griechisch). Heute besteht in den Fachkreisen weitgehend Konsens darüber, dass es eine kretische Periode des Künstlers Dominikos Theotokopoulos gab. In jenen Jahren (etwa 1558 bis 1567/1568) entstanden z.B. das Bild des die Panagia (Panajia, Muttergottes) malenden Evangelisten Lukas und dasjenige über die Anbetung der Magier (drei Weisen). Beide Werke sind im Benaki-Museum in Athen ausgestellt. Das 1983 entdeckte Bild über die Himmelfahrt Mariens (Ermoupolis, Syros) trägt die seltene Unterschrift DOMINIKOS (DOMENIKOS) THEOTOKOPOULOS O DEIXAS. Auf anderen Werken figuriert die Unterschrift CHEIR DOMENIKOU (Hand des Dominikos). Gemäss Maria Konstantoudaki-Kitromilides zeugt der antikisierende Zusatz o deixas (etwa: derjenige, der etwas sichtbar gemacht hat) vom hohen kulturellen Niveau des Künstlers, von seinem Selbstbewusstsein und vom Einfluss jenes Renaissance-Geistes, der damals in den Künstlerkreisen von Chandaka verbreitet war.
Harold E. Wethey (El Greco and His School, 2 Bände, Princeton 1962), ein hervorragender Kenner El Grecos und seiner Schule, hatte bezweifelt, dass die oberwähnten, im Benaki- Museum ausgestellten Bilder wirklich Werke des berühmten Theotokopoulos sind. Diese Auffassung hing mit der an und für sich begreiflichen Skepsis gegenüber der Tendenz zusammen, allzu viele Bilder dem jungen El Greco zuzuschreiben. Schon 1963 entkräftete jedoch der angesehene kretische Byzantinist und Kunsthistoriker Manolis Chatzidakis (1909-1998) die Zweifel Wetheys betreffend die Benaki-Exponate. Chazidakis berief sich nicht nur auf die sensationelle Entdeckung Mertzios´, sondern auch auf allgemeinere Überlegungen über die Kulturentwicklung auf Kreta während der Zeit Theotokopoulos´. Unter anderem wies Chatzidakis darauf hin, dass die damaligen kretischen Maler imstande waren, sowohl a la greca als auch al italiana zu arbeiten. Vgl. Manolis Chatzidakis, Dominikos Theotokopoulos, Texte 1950-1990, Athen 1999 (griechisch).
Chatzidakis verfiel nicht jenem Nationalismus, der für die Deutung bzw. für die Rezeption El Grecos in manchem Fall bezeichnend war und zum Teil immer noch ist. Er beging aber auch nicht den Fehler, El Greco ohne Heranziehung des jungen Kreters Theotokopoulos interpretieren zu wollen. Chatzidakis betonte, dass Theotokopoulos in der mittelalterlichen Welt Kretas seine Laufbahn begann. Auf Kreta malte man damals byzantinisch, ohne die venezianische Malerei zu ignorieren. Laut Chatzidakis lernte Theotokopoulos die grosse Kunst der Venezianer, als diese zum Manierismus zu neigen begann. Er empfing in Rom die manieristischen Überbleibsel der Kunst von Michelangelo und befreite sich erst im Spanien von Karl V. davon. In Spanien identifizierte er sich mit der mystizistischen katholischen Welt. El Greco gab dieser Welt, die über keine eigene Tradition verfügte, den geeigneten Ausdruck. Und dennoch blieb er stets, so schrieb Chatzidakis wörtlich, „sowohl in Italien als auch in Spanien der unangepasste Fremde, der Verbannte, der Grieche (der Graikos)“.
Bei dieser Deutung könnte man vielleicht hier oder dort die Akzente anders setzen. Eines steht jedoch fest: Ohne Berücksichtigung der kretischen Periode kann man das Werk des grossen Malers nicht befriedigend verstehen. Selbstverständlich wäre Theotokopoulos nicht El Greco geworden, wenn er nicht die ausserordentlich wertvollen Impulse genutzt hätte, die er in Iatlien und Spanien empfing. Diese Impulse dürfen indes den kretischen Hintergrund seines Schaffens nicht in den Schatten stellen. Wer diesen Hintergrund verkennt oder unterschätzt, geht nicht nur an einer wichtigen Periode des Werdegangs des Theotokopoulos vorbei, sondern überhaupt an einer sehr bedeutenden Phase der Kulturentwicklung Kretas. Gemeint ist hier insbesondere die Hochblüte der Malerei (vor allem der Ikonenmalerei) vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. Es geht mit anderen Worten nicht „nur“ um El Greco, sondern auch um zahlreiche weitere hochbegabte Künstler, wie etwa Michail Damaskinos (zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts) und dessen Zeitgenossen Georgios Klontzas. Als der berühmt-berüchtigte Fallmerayer seine abschätzige Bemerkung über den fehlenden Kunstsinn der Neugriechen machte (davon ist weiter unten die Rede), verkannte er also nebst vielem anderen die Hochblüte der Malerei im Kreta der Zeit der Venezianerherrschaft.
El Greco gehört der ganzen Menschheit. Nicht „nur“ Griechenland, „nur“ Italien, „nur“ Spanien usw. Und natürlich gehörte der berühmte Maler nicht dem Spanien des Diktators Franco, dem der Nationalsozialist Hugo Kehrer sein 1939 erschienenes Buch über El Greco als Gestalt des Manierismus mit der abscheulich kriecherischen Verherrlichung widmete: „glorioso liberador de España“. El Greco gehört der ganzen Menschheit, obschon seine Werke in unserer kommerzialisierten Welt oft den Gegenstand krämerischer Transaktionen bilden.1997 wurde in New York ein Bild von ihm für 3.6 Millionen Dollar verkauft. Doch El Greco hört nicht auf, jener Kreter zu sein, der seine Heimatinsel verliess, aus welchen Gründen auch immer möglicherweise von der Orthodoxie zum Katholizismus übertrat, eine neue Heimat fand, aber in gewissem Sinn dennoch dort ein Leben lang fremd blieb, ein genialer „Gastarbeiter“ der Kunst.
„Es ist allgemein bekannt, dass Kunst- und Schönheitssinn - das charakteristische Merkmal alten Hellenentums - den Neugriechen gänzlich fehlt; die Natur hat ihnen, wie den Türken und den Mongolen, diese Gabe versagt.“ Diese abschätzige Äusserung stammt aus der Feder des erwähnten Historikers Jakob Philipp Fallmerayer. In seiner „Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters“ versuchte dieser eigenwillige Gelehrte im 19. Jahrhundert den Beweis zu erbringen, die Neugriechen seien, soweit es sich bei ihnen nicht um Albaner handle, eigentlich Slawen.
Die ominöse Behauptung Fallmerayers über das gänzliche Fehlen von Kunst- und Schönheitssinn bei den Neugriechen ist in der Vorrede des zweiten Teils seiner Morea (Peloponnes)-Geschichte zu lesen. Dieser Teil wurde 1836 publiziert - also, um nur diese Beispiele zu nennen, nach der Blüte der spätbyzantinischen Kultur in Mystras (Mistra) (einer Blüte, die auch eine griechische „Wiedergeburt“ vorankündigte), nach den hervorragenden Leistungen des Malers Dominikos Theotokopoulos und nach den kretischen Literaturmeisterwerken des 17. Jahrhunderts. Bleiben wir bei Theotokopoulos. Hatte der „weise Fallmerayer“ (so wird er grosszügigerweise von griechischen Gelehrten bezeichnet) nichts von ihm gehört? Oder hielt er den grossen kretischen Künstler für einen Spanier, obschon dieser als El Greco in die Geschichte einging?
Der Stolz auf die jahrtausendelange, in mancher Periode ruhmreiche Geschichte prägt das neuhellenische Selbstverständnis und somit auch das Identitätsbewusstsein der heutigen Kreter, wobei die zitierten Sätze Fallmerayers als Provokation empfunden werden. Andererseits erweist sich die glorreiche Vergangenheit in manchem Fall als Würde und Bürde zugleich. Es machen sich Tendenzen nach einer „Befreiung von der Vergangenheit“ bemerkbar. Der Widerspruch zwischen Würde und Bürde lässt sich beseitigen, wenn man die historische Kontinuität Griechenlands sachlich-nüchtern auffasst. Diese Kontinuität ist nicht im Sinne der vom Fallmerayer-Syndrom belasteteten grotesk-bedenklichen Kontroverse um die „Reinheit des Blutes“ zu verstehen. Wie ich in vielen meiner Werke dargelegt habe, wurzelt die Kontinuität letztlich im hellenischen Bewusstsein der heutigen Griechen, das sich u.a. von der Erhaltung der Sprache nährt. Für diejenigen, für die der Geist und nicht das Blut zählt, ist nicht Fallmerayers Verdikt über den „mangelnden Schönheitssinn“ der Neugriechen massgebend, sondern Kazantzakis´ Worte über sein Verhältnis zu Dominikos Theotokopoulos, wie er dieses in seinem Buch „Anafora ston Greco“ („Rechenschaft vor El Greco“) zum Ausdruck bringt.
Er stehe wie ein Soldat vor dem General, schreibt Kazantzakis in der griechischen Originalausgabe des Buches, und erstatte El Greco Bericht. Denn El Greco sei, wie er, Kazantzakis, auf Kreta geboren und könne ihn deshalb besser verstehen. Der Kreter Kazantzakis berichtet also dem Kreter Theotokopoulos von seinem Leben. Und im Grunde bringt er das eigene geistige Ringen mit demjenigen des grossen Malers in Verbindung. Der geistige Kampf, nicht das hellenische Blut, verbindet hier den „Soldaten“ und den „General“. In seinem Spanien-Reisebuch ging Kazantzakis sogar so weit, unter Hinweis auf die im 9. nachchristlichen Jahrhundert erfolgte Eroberung Kretas durch Araber aus Spanien zu behaupten, in den Adern El Grecos sei „auserwähltes arabisches Blut“ geflossen! In den kretischen und spanischen Adern sei arabische Blut geflossen, deshalb habe sich El Greco in Toledo zuhause gefühlt! Diese Deutung, in der das hämatologische Moment bedenklicherweise wiederum auftaucht, hält natürlich den wissenschaftlichen Erfordernissen nicht stand. Doch in unserem Zusammenhang interessiert die Tatsache, dass Kazantzakis in Theotokopoulos einen Vorfahren im geistigen Sinne des Wortes sah.
Der Verfasser des nachstehenden Beitrags, Gräzist an den Universitäten Freiburg i.Ü (1965-1995) und Zürich (1984-1992), Direktor des Europäischen Kulturzentrums Delphi (1977-1979) und Griechenland- und Zypernberichterstatter der Neuen Zürcher Zeitung (1967-1995), ist Autor zahlreicher Bücher und Abhandlungen in verschiedenen Sprachen. Für sein wegweisendes Wirken auf dem Gebiet der Griechenlandstudien wurde er durch hohe Auszeichnungen geehrt: Preis der Athener Akademie, Auszeichnungen durch den Präsidenten der Griechischen Republik, durch die Stadt Thessaloniki, durch den Präsidenten der Republik Zypern, zwei Festschriften u.a.m. Am 20. März 2000 wurde Pavlos Tzermias als Korrespondierendes Mitglied in die Athener Akademie, die höchste Kulturinstitution des Landes, aufgenommen.
Der Text stützt sich auf zahlreiche seiner Schriften, nicht zuletzt auf folgendes Buch: Pavlos Tzermias, Kreta von Knossos bis Kazantzakis, Wanderung durch eine faszinierende Kultur, Verlag Dr. Thomas Balistier, Mähringen 2003, ISBN 3-9806168-6-X.