Prächtige und warme Rottöne werden von der Sonne auf die Ägäis geworfen. Irgendwann treffen sie auf ein steil emporragendes Kap, auf dessen Spitze eine alte weiße Marmor-Ruine einmal wieder in den schimmernden Farben der Abendsonne erblüht. Dieser traumhafte Blick des Kap Sounion zieht täglich Touristen aus aller Welt an. Es spiegelt das typisch griechische Motiv wieder, das von Griechenlandbesuchern so sehr begehrt wird. Der Flair einer romantischen antiken Ruine, der uneingeschränkte Blick auf das blaue Meer und die einprägsame Landschaft der Ägäis mit ihrer anmutigen Verbindung von blankem Fels und Wasser.
Nach einer Legende soll sich König Ägeus von Athen in das seitdem nach ihm benannte Ägäische Meer gestürzt haben, als er das Schiff seines Sohns Theseus mit schwarzen Segeln aus Kreta zurückkehren sah. Theseus war damit beauftragt worden, schwarze Segel hissen zu lassen, falls er nicht lebend zurückkommen sollte, doch der Siegesrausch des jungen Mannes ließ ihn diese Vereinbarung vergessen und so ließ er die schwarzen Segel kurzum hängen. Ägeus, der seinem Leben somit aus Trauer ein vorzeitiges Ende setzte, warf sich schließlich wegen nichts in die alles verschlingende See.
Doch ist es nicht nur der atemberaubende Blick und der mythologische Hintergrund, der dieses Gefüge auf Kap Sounion so unwiderstehlich macht, sondern auch der Archäologische Hintergrund, vor dem der Besucher hier stehen kann. Die Ruine, die nun so verhohlen auf dem Kap steht, war einst ein prächtiger Tempel, dem Meeresgott Poseidon geweiht. Seinen Anfang nahm der Tempel vermutlich am Ende des 7. Jh. v. Chr. Es wird davon ausgegangen, dass später, gegen 480 v. Chr., ein nicht fertiggestellter Tempelbau hinzukam, der jedoch beim Perserkrieg wenig später zerstört wurde. Auf dem Fundament dieses Vorgängerbaus wurde dann der heute noch sichtbare Poseidontempel erbaut.
Die Tempelform entspricht dem klassischen dorischen Stil, mit einem Säulenkranz von 6 x 13 Säulen. Dennoch ist das ganze Gebilde bestrebt, eine Eleganz auszustrahlen, die so nur bei ionischen Säulen und Gebäuden auftritt. Das Geheimnis dieser Eleganz ist die Schlankheit, welche die Säulen hier aufweisen. Anders als der Zeus-Tempel von Olympia, der ebenfalls in der dorischen Form gehalten ist, hat der Poseidontempel auf Sounion eine ungewöhnlich weite Vorhalle und eine rückwärtige Halle mit ästhetischer Raumtiefe. Weshalb diese Konstruktion hier anzutreffen ist, ist den Archäologen nicht bekannt und hat schon zu allerlei Streit geführt. Allerdings ist es nicht die Konstruktion, die den Besucher so fasziniert, nicht die 16 Kanneluren, die anstatt der 20 die Säulenschäfte schmücken, was Archäologen und Bauforscher so interessieren mag, und auch nicht ein ionischer Relieffries mit Kampfdarstellungen, der einstmals über dem Architrav der östlichen Vorhalle verlief. Es ist das unglaubliche Ambiente, das dem Besucher hier vor Augen geführt wird.
"Das Meer ist auch anderswo, hier aber wird seine Unendlichkeit gezähmt; nirgendwo verirrt sich der Blick, immer fängt ihn eine Küste auf. Berge sind auch anderswo, hier aber haben sie nicht den Ehrgeiz, aufgereckt das Licht zu verschlingen: sie bieten sich ihm an als Thron. Ebenen gibt es auch anderswo, hier aber treiben sie das Auge nicht zum Horizont, sie leiten es in die eigene Mitte. Und nirgends gibt es solche Inseln, schwebend inmitten der Kugel, die Himmel und Wasser bilden, alle behauen, als habe sie Phidias ringsum aus der See gemeißelt. Und die Dürre ist hier nicht traurig, sie ist Dürre, sonst nichts. Die Kahlheit ist hier nicht abgetötet, sie ist Bühne, ganz leer für den Auftritt ihrer grausamen Sonne. Und die Armut ist hier nicht pittoresk, nicht stinkend, nicht siech; sie ist stolz, gastfreundlich und einsam." (Johannes Poethen: "Der Atem Griechenlands"). Die unglaubliche Schönheit des Heiligtums zu Ehren Poseidons kann kaum besser beschrieben werden, als Poethen es hier getan hat. Es ist ein Naturschauspiel, das dem Besucher hier geboten wird, eine Symphonie von Farbe, Licht und Schatten, rauschendem Wind, Erhabenheit und Idylle.
Doch so schön diese moderne Sichtweise auch sein mag, in der Antike wurde die Landschaft zum Einen philosophisch anders betrachtet, aber auch aufgrund der tatsächlichen Beschaffenheit. Die Klippe, die heute zu sehen ist, ist erst durch jahrtausendelange Umwandlungs-, und auch Verfallsprozesse entstanden. Besonders die Berglandschaft, die sich hinter dem Kap Sounion befindet, war für die antike Wirtschaft sehr wichtig. Hier wurde besonders Silber und Blei meist von Sklaven abgebaut, und auch verhüttet. Ständig war wohl Rauch und Dampf zu sehen und die idyllische Stille, die uns heute so sehr fasziniert, wurde damals von Hammerschlägen und Rufen durchbrochen. Das Silber wurde schließlich zur Münzprägung Athens gebraucht und finanzierte auch einige Kriege. Somit wurden diese Berge, die Laurion-Berge, zurecht als „die Schatzkammer Griechenlands“ bezeichnet. Doch auch andere Funde lassen auf eine dichte Besiedlung der Gebiets rund um das Kap Sounion schließen. So findet sich etwa 400 Meter nördlich des Poseidontempels ein weiter Tempel, der Göttin Athena gewidmet. Des weiteren gibt es Funde von agrarischen Siedlungen und anderen wirtschaftlichen Strukturen, die hier sehr gut erforscht werden konnten. Falls man sein Augenmerk vom erhabenen Poseidontempel loszureißen vermag, kann man sogar dort schon die Ruinen einer Stadtmauer erkennen, die hinunter zu einer ehemaligen Siedlung führt. Erkennbar sind aber nur noch eine knapp vier Meter breite Straße, einige Siedlungsreste und ein Schiffshaus für zwei Schiffe.
So bildet das Kap Sounion in seinem Ganzen ein wundervolles Bild für alle Gemüter. Stille, Schönheit, Idylle, Wissensdrang, was auch immer der Besucher zu finden erhofft, die Wahrscheinlichkeit, es hier zu finden ist immens. Am Ende bleibt nur noch eine kleine Anekdote, die ich hier erzählen möchte: Seit dem 17. Jahrhundert fühlen sich Besucher dazu angeregt, ihre Namen in den nackten Stein des Tempels zu ritzen. Doch keinesfalls sollte man die ganze Schuld auf ein paar halbstarke Jugendliche richten, die Graffiti-Bilder auf den Tempel sprühen, nein, denn es finden sich auch berühmte Namen. Als exzellentes Beispiel lässt sich Lord Byron nennen. Doch das geübte Auge vermag noch viele, viele andere zu finden.