Latest | Most viewed
Latest | Most read




02. Das Apollonorakel von Delphi

  2.210 Wörter 8 Minuten 20.485 × gelesen
2017-08-26 2024-06-12 26.08.2017
Delphi Antikes Heiligtum UNESCO Luftaufnahme 0007
Caption

Auch wenn das Orakel von Dodona in den Homerischen Epen als das älteste derartige Heiligtum erscheint: Nicht Zeus, sondern sein Sohn Apollon gilt den Griechen als der weissagende Gott, und dies schon seit den Zeiten Homers. So sind mit Abstand die meisten griechischen Orakelheiligtümer dem Sohn der Leto gewidmet, im griechischen Mutterland von Delphi über Abai, Argos und Theben bis hin zum Orakel im Ptoiongebirge, im Gebiet der heutigen Türkei die Apollonorakel von Chryse, Klaros und Didyma, um nur die bekannteren unter ihnen zu nennen. Über allen anderen aber stand, spätestens seit dem 6. Jahrhundert v. Chr., das Apollonheiligtum von Delphi mit seiner Orakelstätte. 

Die Bedeutung Delphis für das antike Hellas kann man kaum überschätzen. Für die Griechen war der Ort des Heiligtums am Südwestabhang des Parnassgebirges mit seinem Hafen an der Küste des Golfes von Korinth der Mittelpunkt der Welt: Um ihn zu ermitteln, entließ der Göttervater zwei Adler an ihren Enden, so daß sie sich schließlich in der Mitte begegnen würden. Diese «Mitte» bedeutete aber nicht bloß ein geographisches Zentrum, sondern den Ort, von dem her alles übrige innerhalb der griechischen Kultur erst seinen Standpunkt und seine Orientierung gewinnt: Schon in den frühen Zeiten der Kolonisation fragte man in Delphi an, wo der beste Ort für eine Städtegründung sei, und welchen Göttern man dort opfern solle. Delphi gab darüber hinaus auch Hinweise auf die zur Staatsführung geeigneten Persönlichkeiten; so stand es als geistige Autorität hinter den Gesetzen, die Lykurg den Spartanern gab. In Athen förderte Delphi die Alkmaionidenfamilie, aus der für die Entwicklung der Demokratie so wichtige Persönlichkeiten wie Kleisthenes hervorgingen. Die Auswahl derjenigen attischen Heroen, deren Namen die zehn von Kleisthenes eingeführten Athenischen Bezirke (phylen) tragen sollten, wurde selbstverständlich von Delphi erbeten. 

Bis in konkrete politisch-militärische Situationen hinein fragte man in Delphi an, was als das Beste jeweils zu tun sei. Die Stadt Athen besaß hierfür eigene Beamte (pythochrestoi), die in ständigem Kontakt mit der Orakelstätte standen und bei auffälligen Naturerscheinungen oder anstehenden politischen Entscheidungen entsprechenden Rat in Delphi einholen konnten. Am bekanntesten ist hier wohl die Auskunft des Orakels, vor den heranziehenden Persern «ans Ende der Erde» zu flüchten, und - nach erneuter Anfrage - hinter der «hölzernen Mauer» Schutz zu suchen. Ein Spruch, den nur der schlaue Themistokles als Hinweis auf den strategischen Wert der (hölzernen) Schiffe zu deuten vermochte, mit denen die Perser bei Salamis geschlagen wurden. Und kaum etwas kann den Status des Delphischen Heiligtums besser illustrieren als die Tatsache, daß man nach den Perserkriegen für alle Heiligtümer, die durch die Einfälle der Barbaren entheiligt oder gänzlich zerstört worden waren, heiliges Feuer aus Delphi holte, um die Opferfeuer neu zu entzünden.

Delphi Antikes Heiligtum UNESCO Luftaufnahme 0013
Caption

Bekämpften sich die Griechen untereinander, ließen Spartaner, Argoliden, Thebaner oder Athener nach gewonnen Schlachten entsprechende Weihegeschenke in Delphi aufstellen, sodass sich der Weg die heilige Straße entlang hinauf zum Apollontempel streckenweise wie ein Gang durch die Hauptereignisse der griechischen Geschichte liest. Dies ist nur möglich, wenn man, wie es die Griechen taten, hinter allen Schicksalsereignissen, vor allem aber solch großen wie Schlachten und Kriegen, die Götter als letztlich bestimmende Kräfte ansahen. Das Weihegeschenk ist daher auch der folgerichtige Dank an den Gott, der den Sieg gewährt hat. 

Beispielhaft dafür, dass es keineswegs die militärische Übermacht sein muss, die einen Sieg herbeiführt, ist der merkwürdige Rat des Orakels an die Liparer, gegen die übermächtigen Etrusker mit möglichst wenig Schiffen zu kämpfen. Als die Liparer diesem Rat folgten und mit nur fünf Schiffen in den Kampf zogen, wollten die Etrusker nicht als schlechte Krieger dastehen und schickten ebenfalls nur fünf Schiffe, die daraufhin von den Liparern versenkt wurden. Das wiederholte sich ganze vier Male und führte so zum unerwarteten Sieg gegen die Etrusker, wofür die Liparer der Zahl der versenkten Schiffe entsprechend zwanzig Weihgeschenke nach Delphi stifteten. 

Delphi Antikes Heiligtum UNESCO Luftaufnahme 0009
Caption

Apollon, der «fernhintreffende», besaß neben seinem tiefdringenden Blick aber nicht nur Bogen und Pfeile, mit denen er Rache und Tod bringen konnte, sondern als der Musenführer (musagetes) auch die Leier. George Roux, selber langjähriger Ausgräber in Delphi, hat einmal von «beständige[n] Neigung der Griechen» gesprochen, «ihre Fortschritte auf moralischem und intellektuellem Gebiet dem pythischen Apollon zuzuschreiben (Delphi, S. 17). Dieser Fortschritt besteht somit nicht nur in der weisen Ordnung des Gemeinwesens und der Pflege der Musenkünste, sondern vor allem im denkenden (Selbst-)erkennen und dem daraus hervorgehenden Ergreifen des eigenen Schicksals. So stifteten die Bewohner der Insel Naxos im 6. Jahrhundert nicht ohne Grund eine Darstellung der thebanischen Sphinx nach Delphi, denn diese hatte ihren Opfern stets mit der einen Frage aufgelauert, was es denn sei, das am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen laufe: es war die erst von Theseus gelöste Frage nach dem Menschen, der sich vom Krabbler über den Erwachsenen bis zum Greis mit Gehstock entwickelt. Die zunächst noch in quälenden, sich an den Menschen wie von außen heranschleichenden Bildern auf das große (Menschen-)Rätsel weisende Frage ließ sich später mit Apollons Hilfe vom philosophischen Denken mit dem knappen «Erkenne dich selbst» (gnothi seauton) in klare Begriffe fassen - so einer der Sprüche der «Sieben Weisen», die den damaligen Besucher des Apollontempels an dessen Schwelle ganz im Sinne des Gottes begrüßten.

Es ist daher folgerichtig, dass sich Sokrates, der für die griechische Philosophie vielleicht einflussreichste Denker, in seiner Rede vor dem Athener Gericht hinsichtlich des Vorwurfs, er würde die Jugend mit seinem Vorbild des hartnäckigen Nachfragens zur Subversivität verführen, auf Apollon berief. Nachdem sein Freund Chairephon in Delphi auf die Frage, ob jemand weiser sei als Sokrates, ein klares «nein» zur Antwort bekommen hatte, hat Sokrates ganz im Sinne der Gepflogenheiten zuerst einmal danach gefragt, wie das Orakel das gemeint haben könnte, und im Sinne der Selbsterkenntnis schließlich seine ganze Weisheit allein darin erkannt, scheinbares von wahrem Wissen unterscheiden zu können.

Delphi Antikes Heiligtum UNESCO Luftaufnahme 0001
Caption

Die Reaktion, zunächst einmal zu fragen, wie das Orakel seine Antwort gemeint haben könnte, geht aus der für Delphi charakteristischen Art der Orakelgebung in rätselhaften Sprüchen hervor, die einer Deutung bedürfen und so das eigene Nach- und Vordenken des Fragers herausfordern. Daß die Fehldeutung eines Orakelspruches fatale Wirkungen für das Schicksal des Fragers haben kann, zeigt der bekannte Fall des Lyderkönigs Kroisos, der auf seine Frage, ob er gegen den Perserkönig Kyros in den Krieg ziehen soll, die Antwort bekam, er werde dann ein großes Heer zerstören, dies aber - aus offenkundigem Mangel an Selbsterkenntnis - nicht auf sein eigenes Heer bezog, wie es denn auch geschah. Das läßt tief blicken. Denn diese erst denkend zu entschlüsselnde Form einer Antwort bedeutet immer zugleich, daß die Zukunft des Fragenden keineswegs bis in die Details vorbestimmt ist, sondern mindestens ebensosehr vom Denken - und Irren - des Fragers selbst abhängt.

Neben diesen Orakeln in Versform gab es in Delphi offenbar noch eine zweite, einfachere Weise der Orakelgebung, die mit Hilfe von Bohnen durchgeführt wurde, aber verständlicherweise nur Antworten in bejahender oder verneinender Form zuließ. Während das Delphische Orakel ursprünglich nur einmal im Jahr, nach der Rückkehr Apollons aus dem Land der Hyperboräer, am siebten Tag des Frühlingsmonats befragt wurde, und dies auch zunächst nur von Herrschern wie Kroisos, erlaubte das Losorakel eine größere Anzahl von Befragungen auf einfacherem Niveau. Vielleicht mag diese Praxis mit daran beteiligt gewesen zu sein, daß Plutarch im zweiten Jahrhundert n. Chr. die allmähliche Entwicklung hin zu immer banaleren und persönlicheren Fragen beklagte.

Im ältesten Text über das Heiligtum, dem Homerische Apollohymnus, wird besungen, wie der Gott auf der Suche nach einem geeigneten Ort für sein Orakel nach Delphi kam und dort zunächst einen Drachen (drakainan) zu töten hatte, bevor er den Ort einnehmen und sein Heiligtum erbauen lassen konnte. Mit der Entwicklung der griechischen Dichtung, des Dramas und der Tragödie im 5. Jahrhundert traten fortan immer neue Aspekte hinzu, und als Pausanias schließlich im zweiten Jahrhundert n. Chr. Delphi besuchte, bemerkt er gleich zu Beginn seines Berichtes, daß es viele verschiedene Erzählungen über den Ursprung des Orakels gäbe. Neben der hymnischen Version der göttlichen Erwählung gab es da vor allem die Erzählung vom Hirten Koretas, dessen schwarze Ziegen sich an immer an einem bestimmten Ort einer Vertiefung im Boden merkwürdig benahmen, und daraufhin auch die Menschen, die dem auf die Spur kommen wollten. Aus diesen Motiven ging dann das Bild vom Delphischen «Erdspalt» hervor, aus dem «Dämpfe» oder gar «Rauch» emporgestiegen sein sollen, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts als reine Fiktion widerlegt zu sein schien. 

Delphi Antikes Heiligtum UNESCO Luftaufnahme 0003
Caption

Neuere geologische Forschungen haben zwar ergeben, daß der Untergrund des Geländes entgegen früherer Meinung zwar durchaus Spalten bilden kann, aber das reicht insofern nicht zur Erklärung der Vorgänge aus, da der anstehende Fels vier bis fünf Meter unter dem Niveau des Tempels liegt. Soweit es sich heute rekonstruieren läßt, war die Orakelgrube im Westen des Apollontempels, über der die Pythia während der Entrückung auf einem mit Deckel versehenen Dreifuß saß, aber nicht tiefer als zwei Meter. Was anscheinend von besonderem Einfluss auf die Verfassung der Pythia gewesen sein muß, ist das am quellenreichen Südabhang von Delphi ständig durchfeuchtete Erdreich. Man kommt der ursprünglichen Situation daher vielleicht näher, wenn man nicht von einem Spalt, sondern von einer Senke oder Vertiefung spricht, und statt von Rauch oder Dampf eher von einem Dunst, der aus dem Boden aufstieg. Plutarch, der immerhin amtierender Priester am Heiligtum zu einer Zeit war, in der noch Orakel gegeben wurden, spricht dazu von einem eigentümlichen Duft, der den Tempel zeitenweise erfüllen und die Anwesenheit des Gottes ankündigen würde. 

Die neuerliche These, es habe sich bei dem besonderen Fluidum um das in der Natur vorkommende, aber eher unangenehm riechende Reifungshormon Äthylen gehandelt, das bis ins 20. Jahrhundert hinein neben Lachgas als Narkosemittel verwendet wurde, vermag deshalb nicht zu überzeugen, weil es erst in hoher Konzentration zu psychogenen Wirkungen führt, in dieser Konzentration aber zugleich hochentzündlich ist - was in einem Tempel, in dessen Inneren nachweislich eine Feuerstätte lag, kaum praktikabel gewesen wäre. Vielleicht weist dagegen das Bild vom Orakel am «Nabel» (omphalos) der Welt nicht nur darauf hin, daß der Ort für die Griechen als geographischer und kultureller Mittelpunkt betrachtet wurde, sondern auch darauf, daß der Nabel immer auch der Ort ist, an welchem sich die Lebenskräfte der Mutter (hier der Mutter Erde) an einem Punkt sammeln, um an dieser Stelle konzentriert auf das Kind überzugehen. Ein Ort also, an dem die Kräfte der Mutter Natur zu gewissen Zeiten besondere Wirkungen im Menschen hervorrufen können. Dies würde im Übrigen auch der Tradition entsprechen, daß das Orakel zunächst eines der Erdmutter Gé oder Gäa war, bevor es von Apollon vereinnahmt wurde.

Delphi Antikes Heiligtum UNESCO Luftaufnahme 0011
Caption

Dazu kommt nun aber auch, daß die Apollonpriester am Tag einer Befragung zunächst zu prüfen hatten, ob dieser Tag für eine Befragung überhaupt geeignet (hosios) ist, dies aber nicht etwa durch einen Hinabstieg in die Orakelgrube, sondern durch Beobachtung des Verhaltens eines Opfertieres bei Besprengung mit Wasser. Abgesehen von den äußeren Verhältnissen muß also noch etwas hinzugekommen sein, was gewissermaßen «in der Luft liegt» und sich in materieller Form gar nicht hätte erweisen lassen. Alle Versuche einer Reduktion des Vorganges auf eine einzige, noch dazu stoffliche Ursache greifen daher als Erklärungsansatz zu kurz. Neben einer Reihe von äußerlichen Umständen kommen noch andere, zum Teil temporäre Faktoren hinzu, und schließlich und endlich die Persönlichkeit und Verfassung der Pythia. Hier ist wiederum auf Plutarch zu verweisen, der die Schlichtheit der mit dieser Aufgabe betrauten Person hervorhebt und sich im Zusammenhang mit der Erörterung der Frage, warum die Pythia zu seiner Zeit nicht mehr wie früher in Versen weissage, mit guten Gründen gegen das grob vereinfachende Bild wendet, der Gott spreche selber mit menschlichen Worten durch die Pythia wie eine Schauspieler durch seine Maske.  

Während man heute ohne weitere Kenntnisse dazu neigt, den hohen Status von Delphi und Orakeln überhaupt auf geschickten Priesterbetrug oder schiere Leichtgläubigkeit zurückzuführen, gab es bereits in der Antike durchaus intelligente Versuche, Orakel auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen, die allem Anschein nach jedoch ohne Erfolg blieben. Auffälligerweise sind daneben in der langen Geschichte Delphis nur zwei Fälle von - misslungenen - Versuchen bekannt, die Pythia zu bestechen. Für einen philosophisch gebildeten und im Hinblick auf Wahrheitsliebe glaubwürdigen Apollonpriester wie Plutarch ging es aber gar nicht um die Frage, ob auf diesem Gebiet nicht auch Betrug denkbar ist, sondern darum, ob es überhaupt möglich ist, die Zukunft vorauszusagen, und wenn ja, in welcher Form. 

Delphi Antikes Heiligtum UNESCO Luftaufnahme 0004
Caption

Daß es bei dieser Frage für die Griechen anscheinend noch einen Spielraum zwischen Freiheit oder Vorbestimmheit gab, zeigt bereits der Einfluß der persönlichen Orakeldeutung auf das Schicksal der Fragenden wie im Falle von Themistokles, Sokrates oder Kroisos. Als dieser in Delphi darum bat, seine Heimatstadt möge nicht wie von Apollon vorhergesagt zerstört werden, erhielt er die Auskunft, dies sei leider unumgänglich, aber Apollon habe bei den Schicksalsgöttinnen zumindest erwirken können, daß die Stadt erst nach Kroisos’ Tod zerstört werden würde.